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Rote Listen …

oder das ewige Schicksal kleiner Völker

Schaute vor einer Weile in der arte-Mediathek eine Reportage über Karelien, welche der Sender tags zuvor in seinem alternativen Samstagabendprogramm ausgestrahlt hatte. Karelien, die wald- und wasserreiche Region im Nordosten Europas, zwischen Finnland und Russland gelegen, war mir durchaus ein Begriff. Nicht bewußt war mir freilich, daß diese Landschaft auch von einem kleinen Volk, den gleichnamigen Kareliern, besiedelt ist. Die noch dazu eine eigene Sprache sprechen, Karelisch, welche der finno-ugrischen Sprachfamilie zuzurechnen ist. Diesem Idiom droht allerdings wie anderen Sprachen von ethnischen Minderheiten ohne eigene Staatlichkeit ein ähnliches Schicksal. Nicht bloß Tiere und Pflanzen laufen nämlich Gefahr, vom Menschen ausgerottet zu werden. Nein, auch Sprachen sind akut bedroht, auszusterben.

So existiert beispielsweise ein Atlas bedrohter Sprachen, welcher unter der Ägide der UNESCO im Jahr 2010 in dritter Auflage erschienen ist, eine Rote Liste gleichsam. Dieses Kartenwerk der anderen Art führt sage und schreibe rund 2500 Sprachen überall auf der Erde auf, deren Existenz und Überleben alles andere denn gesichert ist. Zwischen den Polen sicher und ausgestorben unterscheidet die UNESCO vier weitere Grade der Bedrohung, so potentiell gefährdet, gefährdet, ernsthaft gefährdet und schließlich moribund. Wird eine bestimmte Sprache bspw. in der ersten Kategorie noch von allen (drei) Generationen innerhalb einer Familie aktiv als Muttersprache gesprochen, fällt bei zunehmender Bedrohung die nächst jüngere Generation aus. Die ersten Kandidaten müssen dabei allerdiungs gar nicht die „üblichen Verdächtigen“ irgendwelcher indigener Völker (nicht bloß in der Dritten Welt) sein, in Amerika, Afrika, Asien oder Australien, deren Lebensraum zusehends bedroht ist. Nein, selbst in unseren Breitengraden finden sich Sprachen, welche von immer wenigeren Muttersprachlern gesprochen werden, so das Sorbische, das Friesische oder das Rätoromanische in der Ostschweiz. Aber auch Dialekte wie Alemannisch oder Bairisch gelten zumindest als potentiell gefährdet. Die mittelfristig verschwunden sein werden, so man nicht entschlossen gegensteuert. Vorausgesetzt, der politische Wille ist vorhanden und das allfällig nötige Geld. Und selbst dann ist das noch keine Gewähr. Denn „während die zwanzig größten der zwischen 6000 und 7000 lebenden Sprachen von der Hälfte und die ca. 300 Sprachen mit über einer Million Sprechern“ laut wikipedia „von über 90 % der Weltbevölkerung gesprochen werden, weisen die allermeisten Sprachen eine Sprachgemeinschaft von nur wenigen hundert oder tausend Sprechern auf. Je nach Schätzung sollen zwischen 50 % und 90 % aller lebenden Sprachen im 21. Jahrhundert ernsthaft gefährdet sein bzw. verschwinden.“

Besagter Atlas weist das Karelische jedenfalls als „definitely endangered“ (gefährdet) aus. Der Mangel an Infrastruktur und Arbeitsplätzen, der ökonomische Druck zwingt zur Abwanderung in wirtschaftlich potentere Regionen. Zugleich vermischen sich die Gesellschaften immer mehr. Was wiederum den Druck nach sich zieht, sich kulturell anzupassen, d h Sprache und Kultur der Mehrheitsgesellschaft, in diesem Fall des Russischen, anzunehmen. (Andere Gründe für den Sprachentod können Naturkatastrophen, Bedrohung des Lebensraumes durch Raubbau, Krieg oderVölkermord oder politischer Zwang zu kultureller Assimilation im Zeichen von Nationalismus sein.) Somit verlieren die Angehörigen solcher kleiner (Sprach-)Gemeinschaften freilich nach und nach den Zugang zu ihrer eigenen Herkunft und die Kenntnis ihrer Überlieferungen. Zurück bleiben wie häufig die Alten als die letzten aktiven Träger der eigenen Kultur, ihrer Mythen, Traditionen und Kulturtechniken – und damit auch der Sprache. Welche sie alsbald unweigerlich mit ins Grabe nehmen.

Vor diesem Hintergrund geradezu rührend der Versuch, dem gegenzusteuern. Einige wenige unentwegte Idealisten, ein Verein, unterhalten einen Kindergarten. Um wenigstens einigen Kindern ihre eigene Sprache quasi als erste Fremdsprache und passiv nahezubringen. Ein geschütztes Inseldasein auf Zeit. Denn sonst im Alltag sprechen sie Russisch. Oder man sucht im Zuge eines sanften Tourismus eigene Sitten und Gebräuche darzubieten, ein Kultur-Biotop auf Abruf. Ob sich diese allerdings durch solcherart touristischer Folklore tatsächlich auf Dauer wachhalten lassen, bleibt doch eher ungewiß.

Eine globalisierte Welt drängt wirtschaftlich und damit auch kulturell zu immer weitergehender Homogenisierung. Leidtragende sind kleine Gemeinschaften, deren Stimme als zu unbedeutend gilt, als daß sie gehört werden könnte. Es dominiert die Sprache des Geschäfts und der Zerstreuung. Dieweil die Sprache der Seele unwiderruflich verstummt …

 

Der Eintrag des erwähnten Atlas der UNESCO zum Karelischen

Name of the language Karelian (Karelia) (en), carélien (Carélie) (fr), carelio (Carelia) (es), карельский (ru)
Related records Karelian (Tikhvin), Karelian (Tver), Karelian (Valday)
Vitality Definitely endangered
Number of speakers 20000
Estimate for the Republic of Karelia based on the 2002 census of the Russian Federation, possibly slightly inflated; up to 2,000 elderly speakers in Finland taken into account
Location(s) Loukhi, Kem’, Kalevala and Muyezerskiy counties, the western parts of Belomorsk, Segezha and Medvezh’yegorsk counties, the southwestern part of Kondopoga County and the Porosozero region of Suoyarvi (Suojärvi) County of the Republic of Karelia, the Russian Federation; in Finland, Karelian is spoken by people evacuated in 1940 and 1944 from former Finnish territories including Suojärvi, Suistamo and Korpiselkä counties, currently the central parts of Suoyarvi (Suojärvi) County in the Republic of Karelia, and in two border villages in Suomussalmi County in Oulu Province
Country or area Finland, Russian Federation
Coordinates lat : 63.0474; long : 33.4616
Corresponding ISO 639-3 code(s) krl

 

Selbstische Ignoranz bis in den Tod – und noch darüber hinaus!

Da haben die Damen und Herren Parlamentarier also den bequemen Weg gewählt. Und im Falle der Organspende bei festgestelltem Hirntod beim gestrigen Votum im Bundestag die ausdrückliche Zustimmung des Einzelnen zum Gesetz gemacht. Daß es überhaupt zu einer gesetzlichen Neuregelung gekommen ist, läßt darauf schließen, daß Not am Mann ist, sprich: der Bedarf an Spenderorganen ist hoch, die Bereitschaft zur Spende dagegen stagniert bzw. ist rückläufig. Mit der von Gesundheitsminister Spahn entworfenen Widerspruchslösung hätte dieser Trend eventuell umgekehrt werden können, wenn ein jeder zunächst einmal als Spender angesehen würde. Von einer staatlichen Bevomundung, einem Spendezwang quasi, kann dabei aber nicht die Rede sein. Ganz im Gegenteil, der gemeine Bürger wäre damit vielmehr angehalten, sich mit seiner eigenen Körperlichkeit und deren Endlichkeit auseinanderzusetzen. Und als Ergebnis dieser inneren Klärung stünde dann eventuell die Bereitschaft, einem Bedürftigen nach Eintritt des eigenen Todes einen letzten Dienst zu erweisen, auf daß jener die Möglichkeit erhalte weiterzuleben. (Zumal es einem auf dem Totenbett doch eigentlich egal sein kann, ob er oder sie denn noch „komplett“ verbrannt oder vergraben werde.) Oder eben auch nicht. Durch die nun akzeptierte Zustimmungsregelung wird der Bürger freilich von jeglicher Selbstprüfung entlastet. Da im Wesentlichen alles beim Alten bleibt. Denn ob eine dezente Anfrage bei irgendwelchen Behördengängen etwas an der bescheidenen Spendebereitschaft ändern kann, mag doch bezweifelt werden, Das bißchen Gemeinsinn opfert man lieber auf dem Altar einer selbstischen Ignoranz. Und den Leidtragenden ruft man derweil ob dieses Befundes zu, tragt euer Los mannhaft?