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An einem Tag im Jahr …

Der schöne 27. September

 

Ich habe keine Zeitung gelesen.

Ich habe keiner Frau nachgesehn.

Ich habe den Briefkasten nicht geöffnet.

Ich habe keinem einen Guten Tag gewünscht.

Ich habe nicht in den Spiegel gesehn.

Ich habe mit keinem über alte Zeiten gesprochen und mit

keinem über neue Zeiten.

Ich habe nicht über mich nachgedacht.

Ich habe keine Zeile geschrieben.

Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht.

 

Thomas Brasch


Thomas Brasch, der schöne 27. September (1983),

zit. n. Christa Wolf: Ein Tag im Jahr. 1960-2000. Frankfurt a. M. 20133, S. 7.

 

Photographie (leider und ausnahmsweise an einem 28. September geschossen :-)) © LuxOr

 

Schweigt.

Vergangene Nacht noch in Christa Wolfs Ein Tag im Jahr gelesen. Dort auf das Gedicht Schweigt des chilenischen Literatur-Nobelpreisträgers Pablo Neruda gestoßen. Teils durchaus mit aktuellem Bezug. Aber lest selbst:

Schweigt

 

Jetzt zählen wir zwölf

und wir rühren uns alle nicht.

 

Einmal laßt uns auf Erden

in keiner Sprache sprechen,

für eine Sekunde stehenbleiben,

nicht soviel die Arme bewegen.

 

Da wir nicht vermögen, einträchtig zu sein,

wenn wir unser Leben so viel rühren,

vielleicht vermag Nichtstun einmal,

vielleicht ein großes Schweigen

diese Trostlosigkeit zu unterbrechen,

dieses uns nie Verstehen,

dieses mit dem Tod uns Bedrohen,

vielleicht soll die Erde uns lehren,

wenn alles tot erscheint

und doch alles lebendig war.

 

Jetzt werde ich bis zwölf zählen

Und du schweigst und ich geh fort.

Pablo Neruda: Schweigt, zit. n. Christa Wolf: Ein Tag im Jahr. 1960-2000. Frankfurt a. M. 20133, S. 392, („“Donnerstag, 27. September 1984, Berlin, Friedrichstraße“)