Schlagwort-Archive: Sonnenschein

In hoc signo …

vinces?

Eine Hauswand. Die Seitenfront gegenüber, um genau zu sein. Trotz der Farbe eigentlich ganz gewöhnlich, sieht man mal von einem voluminösen Lüftungsrohr ab, das am Rande eporsteigt. Etwa in deren Zentrum ist jedenfalls deutlich ein Kreis zu erkennen, etwas geneigt, vielleicht leicht oval, am Rande rechts scheinbar nicht wirklich geschlossen, eher diffundierend. Das kreisrunde Gebilde ist freilich nicht leer, nein. Einem Rad nicht unähnlich, kreuzen sich zwei zarte, geschwungene Streben, die sich in der Mitte gar noch prominent in einer Art festen Knoten verbinden.

Dieses merkwürdige Phänomen taucht seit einiger Zeit allmorgendlich bei Sonnenschein auf. Sicher, es handelt sich hierbei um eine Spiegelung. Deren Quelle, deren Ursache ich freilich bis dato nicht auszumachen vermochte. Kann das also noch Zufall sein? Was mag dies Zeichen dann aber bedeuten? Gemahnt es in seiner Form nicht an das Numinose? Ein Kreis, ein angedeutetes ‚Χ‘ – spricht hier nicht das Göttliche schlechthin, Jesus Christus gar, zu uns? Und welche Botschaft mag schließlich dahinterstehen? Ist es ein (Weck-)Ruf, eine Mahnung, eine Warnung? Oder spricht es uns vielmehr Beistand und Trost zu und Mut und Hoffnung …?


Auch für Ce, der heute Geburtstag gehabt hätte.

 

Photographie © LuxOr

 

Winterfreuden …

Part Tu

Tags darauf, ein Sonntag, war ich in meinem eigenen Revier wieder solo unterwegs.  Zumal ein Gutteil meines Weges kaum mit einem Kinderwagen zu absolvieren gewesen wäre. Die Sonne war mir noch immer hold. Und so stromerte ich zwei Stunden vielleicht die Hotspots einer meiner gewohnten Touren ab. So hatte ich also ein rühriges Wochenende draußen erleben dürfen. Zum Abend hin fuhr ich schließlich noch ins nächste heimelige Kleinstädtle den Fjudscha heimzusuchen, wo ich dann auch übernachtete, Corona machts möglich dank Ausgangssperre.

Wie ich mich dann zwei Tage später wieder gen Westen aufmachte, fiel es mir allerdings siedend heiß ein, daß ich ein eminent wichtiges Vorhaben ja sträflichst unterlassen hatte, nämlich den Wasserstand zu kontrollieren … 🙂 Den zu begutachten steht daher nun ganz oben auf der To-do-List für meinen nächsten Kurztrip nach Hause.

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Photographie © LuxOr

 

Winterfreuden …

Part Wan

Sehnsüchtig erwartet, weilte ich vorvoriges Wochenende mal wieder zuhause am See, um nach dem Rechten zu sehen, den Wasserstand zu kontrollieren und meine Freunde zu besuchen; hübsch nacheinander einenjeden an einem Tag und dabei nie mehr als drei Personen auf einem Fleck. Und auch das Wetter spielte erfreulicherweise mit, die Sonne lachte und zauberte ein besonderes Licht auf die noch winterlich weiße Landschaft. Um diese lange vermisste Atmosphäre – wann war es denn die letzten Jahre kalt genug, einen hübschen Teppich aus Schnee auszulegen, der dann auch noch ein paar Tage liegen blieb? – ausgiebig genießen zu können, verabredeten wir uns auf den frühen Nachmittag. Wir, das sind meine Wenigkeit, die süße kleine Ef, mein Pseudo-Patenkind, und ihre Mama Hetty Wortspeicher (Daß ich dann freilich doch eine halbe Stunde oder so später eintraf, war allein der Tatsache geschuldet, daß ich die Nacht zuvor ganze dreieinhalb Stunden geruht hatte, alles ganz corona-konform, ju no, bloß des Broterwerbs wegen, aber das tut hier nix weiter zur Sache …). Die kleine Ef wurde dann kurzerhand von uns zwangsbeglückt und wohlig eingemummelt in den geländegängigen Kinderwagen geschnallt. Denn laufen wollte sie heuer partout nicht. Vielleicht mußte sie sich auch schlichtweg ein wenig erholen von den ganzen Strapazen der Tage zuvor, denn die weiße Pracht zugeschneiter Straßen und Wege, die kunstvoll bedeckte Natur als kleine Steppkin erstmals selbst zu entdecken und zu erlaufen, mag sicher aufregend sein, aber wohl auch anstrengend und ermüdend. Und dann braucht es eben mal eine Auszeit vom kindlichen Schneegetümmel.

Das Wohngebiet und selbst den ansonsten auch bei wenig ansehnlichem Gewetter sehr beliebten Spielplatz hinter uns lassend, strebten wir also entschlossen dem schmalen Weg dem lauschigen Bächle entlang zu. Und alsbald hatte ich stets die Kamera im Anschlag: Ein Motiv, ein Motiv, ein Motiv! Welch ein Glück, daß ich mit Hetty unterwegs war, gingen wir doch ehedem gemeinsam auf Photo-Pirsch, so daß mir trotz der winterlichen Frische ihr Verständnis sicher war. So erfreuten wir uns am beschaulichen Pfade, an den weiß betupften Wiesen und Wegen und an den Skeletten der Laubbäume, welche die Sonne noch dazu eigentümlich illuminierte. Und während der ganzen Zeit unseres gemächlichen Fortkommens plauderten wir angelegentlich über Gott, viel mehr noch aber über unsere kleine Problemwelt. Die kleine Ef derweil bekam nicht recht etwas davon mit, war sie doch bei unserem Gang über den leicht aufgewühlten Weg sanft in den wohlverdienten Mittagsschlaf gewiegt worden.

Vorne beim Badesee angelangt, der nur leider abgezäunt und also photographisch nicht zugänglich ist, kehrten wir dann nicht etwa schon wieder nach rechts und zurück, sondern wandten uns links gegen das angrenzende Wäldchen. Dorten kamen uns auf breiterem Wege dann auch andere Frischluft-Sonnenanbeter entgegen, in gehörigem Abstand versteht sich. Wieder andere schlossen gar zu uns auf, hatten wir doch keine Eile, gab es doch auch im Haine noch manchen lichten Blick zu entdecken, so eine Art natürliches Rückhaltebecken auf einer Lichtung zwischen zwei Waldabschnitten. Dann allerdings beschleunigten wir langsam unsere Schritte, dunkelte es doch zusehends im Tann. Und die Photo-Finger begannen auch etwas zu frösteln. Wir hoben uns also die große Schleife für dann wieder längere, mildere Nachmittage auf und wandten uns daher gen links. Wo wir nach einigen Minuten schließlich auf einen geteerten Weg gelangten, der uns nach wenigen weiteren Linksschlenkern wieder zurück in das Wohngebiet führte. Die Sonne beleuchtete unseren Rückweg dabei angenehm zartgolden.

 

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Photographie © LuxOr

Bemerkenswerterweise wurde die kleine Ef, die unsere Winterfreude beinah zur Gänze verschlafen hatte, ausgerechnet da wieder munter, als die heimischen vier Wände nahten. Aber dann konnt‘ es ihr nicht schnell genug gehen, mokierte sie sich doch über das allzu bescheidene Tempo ihrer wohligen Sänfte, die liebe Mama solle doch bittschön ein paar Gänge zulegen. Aber vielleicht mag das auch allein an ihrer Vorfreude auf die versprochenen Zimtsterne gelegen haben. Dennoch bewies sie dabei unerwartet großherzig Geduld: Wie ich die betreffende Packung zunächst offenbar an der falschen Stelle zu öffnen versuchte, versicherte sie mir zutraulich: „Der LuxOr, der schafft das!“ Das war mir natürlich Ansporn genug und siehe da, die Sollaufrissstelle ward nun doch gefunden und die Zuckergabe konnte verabreicht werden. Und selbstverständlich bekam ich auch das ein oder andere Sternchen von ihr verehrt.

Aber diese Degustation war noch nicht aller Tage Abend, nein, denn Ef wollte/sollte mir ja noch ihre hübschen Weihnachtsgeschenke präsentieren. Sollte deshalb, weil ich ja insgeheim vermute, da mochte niemand anderes als die Frau Mama einmal die Gelegenheit nutzen und sich künstlerisch-kreativ austoben am Turmbau zu Xyingen. Denn Ef ward mit einem großzügigen Baukasten für eine Kugelbahn beschert worden. Welcher Erwachsene aber gleichfalls zu begeistern weiß. Und Hetty schien mir dabei von vornherein einen großen Wurf im Sinne gehabt zu haben, annähernd ein perpetuum mobile, ein Kreislauf einer Bahn, der seine Fracht, die Kugel, nach ihrem Abschuß über Gefälle, Kurven und Trichter und gar noch eine Wippe wieder in ihre Ausgangsposition zurückbringen sollte, von der aus sie aufs Neue auf ihre Umlaufbahn katapultiert werden sollte – fürwahr eine kühne Konstruktion. (Besagte Wippe erwies sich freilich als Schwachpunkt des Entwurfs, entschied sich die Kugel doch allzu oft für die falsche Seite und fiel aus dem Rahmen. Daher bauten wir hinten noch einen weiteren Trichter an, welcher schließlich in einer Kugelgarage endete.) Ich unterstützte die leitende Architektin und Ingenieurin jedenfalls mit intelligenten Detaillösungen in ihren Bestrebungen, bspw. mit einem gewagten Türendurchbruch gleich zu Beginn. Zwischendurch stellte ich mich aber als Rodeopferdl für Ef zur Verfügung. Wobei ich durchaus reüssierte. Nein, nein, iwo, nicht was Ihr nun vielleicht vermuten tut, ich bin doch kein Unhold und werfe mein Ef-chen ab! Nein, ich verbuchte es vielmehr als Erfolg, daß es ihr unter meinen bockigen Bewegungen nicht gelang, von ihrem Spekulatius, an dem wir uns mittlerweile gemeinschaftlich gütlich taten, zu kosten 😊.

Visuelle Zeugnisse dieses wilden Rittes existieren freilich aus naheliegenden Gründen leider nicht. Dafür aber von der Kugel auf ihrer gewagt-gewitzten Umlaufbahn. Über diesem ungezügelten Spieltrieb geriet uns allerdings beinah die Uhrzeit aus dem Blick, weshalb ich nach wenigen Probeschüssen bloß urplötzlich aufspritzen mußte und mich sputen, um noch einigermaßen vor Schicht im Schacht, sprich: vor der allgemeinen Ausgangssperre ab 20:00h (ja, so eine herrscht in Ba-Wü), aus dem Haus und auf die Straße zu kommen. Also klaubte ich meine weniger als sieben Sachen zusammen und machte mich startklar, während Muttern Wortspeicher auf meine Bitte hin geschwind noch die Kugel in Aktion im Bewegtbild für die Nachwelt festhielt und umgehend weiterleitete. Glücklicherweise langte ich dann ohne Beanstandungen noch knapp im akademischen Viertel wieder zuhause an.

Video © Hetty Wortspeicher

Ein knuffiger Nachmittag und früher Abend mit Kleinkindanschluß war damit viel zu schnell zu Ende gegangen. Aber es war herrlich, sich mit lieben Menschen wieder einmal den Wind um die Nase wehen zu lassen, draußen herumzutigern und auf den Abend noch gemeinsam zu spielen und die Welt um sich herum einfach zu vergessen. Mit wem kann man das sonst?!

 

Nicht nur Gewölk – oder apropos Zürich.

Im Märzen ’19 weilte ich anläßlich einer Usschdellig mal wieder in Zürich. Welche Kunstrichtung bzw. welches Thema mich damals tatsächlich zu dem Besuch animierte, weiß ich heute leider gar nicht mehr zu sagen. Doch aus zweierlei Gründen blieb mir dieser Cooltour-Trip anschließend in Erinnerung.

Zunächst verfuhr ich mich nämlich böse, da ich am Autobahn-Ende statt rechts runter abzubiegen geradeaus fuhr. Ich bildete mir nämlich ein, ich würde den rechten Weg rein aus der Erinnerung finden und hatte demnach überhaupt keine smarte Wegunterstützung zur Hand. Das mag für sich genommen zunächst gar nicht tragisch sein. Sind doch Männer per se die geborenen Pfadfinder ;-). Ich fuhr indes, aus lauter Freude darüber, daß ich mich einigermaßen wieder orientiert hatte, offenbar bei Rot über eine Ampel. Was ich freilich überhaupt nicht bemerkte, zumal auch kein Blitzer auslöste. Für mich überquerte ich den Strich noch bei Gelb. Der Wochen später eingetrudelte Strafzettel wies jedoch etwas anderes aus. Zähneknirschend bezahlte ich das nicht zu knappe Sümmchen, da ich mir ziemlich sicher war, daß ein Widerspruch hier nicht fruchten würde. Außer Spesen nix jewesen …

Davon wußte ich damals natürlich noch nichts. Wie ich also das Museumsgebäude wieder verließ, strahlte mich die Frühlingssonne so verführerisch an, daß ich spontan beschloß, noch ein wenig zu bleiben und in den nahen Gässchen der Altstadt bzw. unten an Fluß und See herumzuschlendern. Zumal ich ja auch meine extra mitgebrachte Butterbrezel ihrer Bestimmung zuführen wollte, denn Cooltour-Genuß kann durchaus hungrig machen. Gedacht, getan: munter kauend und mit einem wachen Photo-Blick tigerte ich also los. Nach einem Abstecher ins Grossmünster – wo ich natürlich meinen Heißhunger nochmals bemeisterte – strebte ich die Uferstraße an der Limmat entlang und wechselte auch das Ufer hinüber zum Fraumünster, welches freilich so stark frequentiert schien, daß ich kurzerhand darauf verzichtete, die Chagall-Bilder dorten aufzusuchen. Ihr geheimnisvolles Blau hatte ich glücklicherweise schon bei anderer Gelegenheit bewundern können. Schließlich trieb es mich direkt ans Wasser (ob nun des Sees oder der Limmat, weiß ich leider nie so genau). Auf diesem spontanen Streifzug entstanden einige Photos. Irgendwie besonders angetan haben es mir freilich die folgenden „Untersichten“, warten doch auch unter Brücken manch überraschend ansprechende Ausblicke auf Entdeckung. Der junge Mann im weißen Anorak fütterte übrigens die diversen Wasservögel. Er, das mittelalterliche Paar, das braven Statisten gleich so stille stand, und alle anderen sind mir jedenfalls gänzlich unbekannt.

Der beseelende Sonnenschein begleitete mich übrigens noch die ganze Rückfahrt über. Weshalb ich, wieder zurück in der Heimat,  kurzerhand noch einen Schlenker gen Westen einlegte, nun den Sonnenuntergang an „meinem“ See zu photographieren. Zuhause ließ ich den Abend dann gemütlich ausklingen. Ich hatte einen kurzweiligen Tag mit eindrücklichen Bildern erleben dürfen und startete nun zufrieden und frohgemut in die anstehenden Ferien.

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Photographie © LuxOr

Das Gewölk des vorigen Sonn-Tags …

Wie ich mich aufmachte gen alternativen Filmabend mit vorheriger feiner Verköstigung aus der Restedose und lecker Bierchen, ging just in dem Moment, als ich mein Garagentor schloß, ein leichter Hagelschauer über mir nieder. Gleichwohl vermochte ich noch halbwegs trockenen Textils in mein Vehiculo zurückzuhuschen. Die ersten Kilometer fuhr ich dann jedenfalls durch Starkregen hindurch. Nach etwa der starken Hälfte meiner Wegstrecke klärte sich der Himmel allerdings wieder etwas und der Regen stellte seine nährende Tätigkeit peu-à-peu ein. Anlaß genug für mich, unterwegs zum naheliegenden Badestrande abzubiegen. Zumal meinem Gastgeber meine akademische Auslegung, was Über-Pünktlichkeit anbetrifft (allzeit „cum tempore“!), durchaus nicht unbekannt ist. (Ich kann allerdings auch durchaus anders, gell! Auch wenn ich bisweilen e bissel verpeilt scheine … ) So lief ich also geschwind am ebenfalls dorten befindlichen Restaurant mit Beherbungsbetrieb vorbei über die herbstlich-bunte Wiese auf den kleinen Bade-& Boots-Anleger zu, wo dann eben dieses Photi entstand. Während also in meinem Rücken das regenschwere gräuliche Gewölke unbeirrt gen Osten weiterzog, bewahrheitete sich von Westen her das alte Wort, daß auf jeden Regen sicher auch wieder Sonnenschein folgt, wenn auch bloß als lichte Verheißung in der Ferne. Und daß gerade das Stadium des Dazwischen, der Moment des Übergangs, des Nicht-Mehr und des Noch-Nicht-Wieder, beeindruckende Ausblicke bereithalten kann. Deshalb sollte ich mich vielleicht einfach öfters mal auch bei schaurigem Wetter draußen tummeln, schlechte Kleidung nun hin oder her …

Photographie © LuxOr

 

Der Schein der Sonne …

oder welche Art  von Verrat.

(…) Aber die Stadt war zum Staunen. Sie war nichts als ein dunkler, schieferfarbener Strich, aus dem die Türme aufwuchsen. Gregor zählte sie: sechs Türme. Ein Doppelturm und vier einzelne Türme, die Schiffe ihrer Kirchen weit unter sich lassend, als rote Blöcke in das Blau der Ostsee eingelassen, ein riesiges Relief. Gregor stieg vom Rad und betrachtete sie. Er war auf diesen Anblick nicht gefaßt. Sie hätten es mir sagen können, dachte er. Aber er wußte, daß die Leute im Zentralkomitee für so etwas keinen Sinn hatten. Für sie war Rerik ein Platz wie jeder andere, ein Punkt auf der Landkarte, in dem sich eine Zelle der Partei befand, eine Zelle hauptsächlich aus Fischern und den Arbeitern einer kleinen Werft. Vielleicht war auch nie jemand vom Zentralkomitee in Rerik gewesen. Sie hatten keine Ahnung, daß es hier diese Türme gab. Und wenn sie es wußten, so würden sie doch nur über Gregors Ansicht lachen, daß solche Türme einen Einfluß auf die Parteiarbeit hätten. Wenn Gregor ihnen gesagt hätte, was er im Anblick von Rerik dachte, daß man nämlich in einer Stadt, in der es solche Türme gab, mit ganz anderen Argumenten arbeiten müsse als mit denen, die für gewöhnlich in den Flugblättern standen, so hätten sie nur die Schultern gezuckt. Bestenfalls hätten sie gesagt: dort wohnen genau die gleichen Menschen wie auf dem Wedding. Und das war richtig. Die Fischer von Rerik waren sicherlich genau die gleichen Menschen wie die Arbeiter von Siemensstadt. Aber sie wohnten unter den Türmen. Sie wohnten selbst dann noch unter ihnen, wenn sie auf die See hinausfuhren. Denn die Türme waren auch Seezeichen.

Von ihnen aus muß die See bis an die Grenze des Hoheitsgebietes zu beobachten sein, dachte Gregor. Sieben Meilen. Sieben Meilen Flucht lagen im Blick dieser Türme. Aber auf keinen Fall saßen die Anderen in den Turmluken. Das war eine gute Sache, dachte Gregor, daß es keine Türme für die Anderen waren. Wer saß denn darin? Niemand saß darin. Es waren leere Türme.

Aber obwohl die Türme leer waren, fühlte sich Gregor von ihnen beobachtet. Er ahnte, daß es schwierig sein würde, unter ihren Blicken zu desertieren. Er hatte es sich ziemlich einfach vorgestellt: sein letzter Instrukteurauftrag lautete auf Rerik, er würde ihn ausführen und dabei den Verbindungsmann aus Rerik über die Hafen- und Transportverhältnisse ausforschen. Aber er hatte nicht mit diesen Türmen gerechnet. Sie sahen alles. Auch einen Verrat.

Plötzlich erinnerte sich Gregor daran, daß er sich schon einmal von einem Hügel aus einer Stadt am Meer genähert hatte. Die Stadt hatte Tarasovka geheißen. Tarasovka auf der Halbinsel Krim. Es war Abend geworden, und sie hatten endlich die Erlaubnis bekommen, die Luken der Panzer zu öffnen, und Gregor war sogleich mit dem Oberkörper durch die Luke gekrochen, um frische Luft zu schöpfen, den Abendwind eines Manövertags der Roten Armee. Da hatte er die Stadt drunten am Fuß der Steppenhügel liegen sehen, ein Gewirr aus grauen Hütten an der Küste eines golden schmelzenden Meeres – ganz anders war diese Stadt gewesen als Rerik mit seinen roten Türmen vor dem eisigen Blau der Ostsee -, und der Genosse Leutnant Choltschoff, aufrecht in der Luke des Panzers, der vor Gregors Panzer fuhr, hatte ihm zugerufen: Das ist Tarasovka, Grigorij! Wir haben Tarasovka genommen! Gregor lachte zurück, aber es war ihm gleichgültig, daß die Tankbrigade, der er als Manövergast zugeteilt war, Tarasovka genommen hatte, er war plötzlich fasziniert von dem goldenen Schmelzfluß des Schwarzen Meeres und dem grauen Gestrichel der Hütten am Ufer, ein schmutzig-silbernes Gefieder, das sich zusammenzuziehen schien unter der Drohung eines dumpf dröhnenden Fächers aus fünfzig Tanks, aus fünfzig dröhnenden Wolken Steppenstaubs, aus fünfzig Pfeilen eisernen Staubs, gegen die Tarasovka den goldenen Schild seines Meeres erhob. Und Gregor sah, wie der Kommandeur, im vordersten Panzer stehend, seinen Arm erhob; das Dröhnen erstarb, die große Steppenbewegung stand still, und die Wolken Staubs erhoben sich zu Schleiern, zu Fahnen, die sich senkten vor dem Schild aus Gold. Unter seinem Gefieder aus fünfhundert grauen Hütten begann Tarasovka wieder zu atmen, ehe der Tag erlosch.

Im Anblick Reriks erinnerte Gregor sich an Tarasovka, weil dort sein Verrat begonnen hatte. Der Verrat hatte darin bestanden, daß ihm, als einzigem, der goldene Schild wichtiger gewesen war als die Einnahme der Stadt. Gregor konnte nicht feststellen, ob Choltschoff und die übrigen Offiziere und Soldaten den Schild überhaupt gesehen hatten; sie sprachen nur über ihren Sieg. Für Choltschoff war Tarasovka eine Stadt, die zu erobern war; für die Genossen des Zentralkomitees war Rerik ein Punkt, der gehalten werden mußte – es gab keine goldenen Schilde, die sich erhoben, keine roten Riesentürme, die Augen hatten.

Vielleicht hatte der Verrat schon früher begonnen, vielleicht schon in einem plötzlichen Ermüden während einer Vorlesung in der Lenin-Akademie, auf die der Jugendverband Gregor geschickt hatte, für seine organisatorischen Verdienste in Berlin. Es wäre besser gewesen, wenn sie mich nie dorthin geschickt hätten, dachte Gregor, in das Land, in dem wir gesiegt haben. Wenn der Sieg errungen war, hatte man Zeit, sich für anderes zu interessieren als für den Kampf. Sie hatten ihm zwar gepredigt, auch in ihrem Lande ginge der Kampf weiter, aber ein Kampf nach dem Sieg war etwas ganz anderes als ein Kampf vor dem Sieg. Am Abend von Tarasovka hatte Gregor begriffen, daß er Siege haßte.

Was hatte er aus Moskau mitgebracht? Nichts als einen Namen. In die Lenin-Akademie trat man ein wie in ein Kloster: man legte seinen Namen ab und wählte einen neuen. Er ließ sich Grigorij nennen. Während er in Moskau die Technik des Sieges studierte, hatten die Anderen in Berlin gesiegt. Man schickte ihn über Wien zurück, mit einem falschen Paß, der auf den Namen Gregor lautete. Er lernte eine dritte Form des Kampfes kennen: den Kampf nach einer Niederlage. In den Kampfpausen dachte er an den goldenen Schild von Tarasovka. Die Genossen im Zentralkomitee waren nicht mit ihm zufrieden. Sie fanden, er sei flau geworden.

Alfred Andersch: Sansibar oder der letzte Grund. Roman, Zürich 1970 (EV 1957), S. 20-23.

 

 

Photographie (noch mittels eines vorsintflutlichen Nokia-Handys vor bald zehn Jahren)

© LuxOr