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Über Ultras – diesseits und jenseits.

Das weite Stadionrund. Irgendwo prangt ein Fadenkreuz. Überdimensioniert. Eine Person im Fokus, deutlich zu erkennen. Es handelt sich um Dietmar Hopp, seines Zeichens Mitgründer von SAP und milliardenschwerer Mäzen des Fußballbundesligisten TSG Hoffenheim. Das übermannsgroße Plakat entrollten denn auch nicht Anhänger der Kraichgauer, sondern sogenannte Ultras gegnerischer Mannschaften;  geschehen in Herbst und Winter der laufenden Saison, menschenverachtend, gleichwohl dem Geist der Zeit entsprechend. Ultras, hartgesottene Fans, deren Leben aus wenig mehr denn Fußball zu bestehen scheint. Und die deshalb auch kaum Spaß verstehen. Sie sehen sich stattdessen als Hüter der reinen Lehre ihrer Religion. Und setzen sich dementsprechend gegen zunehmende Kommerzialisierung, Eventisierung und Vermassung zur Wehr. Weshalb ihnen auch die durch Hopps Zuwendungen üppig alimentierte TSG ein Dorn im Auge sein dürfte. An sich hehre Anliegen. Dank derer sich die Ultras vielfach zu den dominanten Fan-Gruppierungen innerhalb ihrer Vereine entwickelt haben, nicht unbedingt der absoluten Anzahl an Unterstützern wegen, jedoch nach Einfluß. Wäre da nicht ihr teils mehr als indifferentes Verhältnis zu Gewaltanwendung. Und ihre nicht unproblematische Nähe zur politischen Rechten. Was durchaus mit ihrem martialischen Auftreten korrespondiert oder ihrer straffen Organisation oder einem einheitlichen Auftreten. So weit, so bescheiden.

Szenenwechsel. Wenden wir unseren Blick auf die andere Seite des Atlantiks, genauer nach Brasilien. Dort scheint der rechtspopulistische Präsident und Ex-Militär Jair Bolsonaro mehr und mehr die autoritäre Karte zu ziehen in seiner Auseinandersetzung mit den anderen Verfassungsorganen, insbesondere auf Seiten der Justiz. Durch mittlerweile geläufige Hetzkampagnen off- und online bringt er seine gläubige Anhängerschaft gegen seine Kritiker in Stellung. Doch nicht etwa die linke Opposition oder die Gewerkschaften lehnen sich dagegen auf. Nein, gestandene Fußball-Fans, Ultras, insbesondere aus Sao Paulo und Rio de Janeiro stehen an der Spitze von und organisieren Proteste/n. Deren Widerständigkeit unter dem Banner der Demokratie hat dabei eine lange Tradition. Denn bereits unter der Militärdiktatur, welche Brasilien von den 1960er bis in die 1980er beherrschte, lebten jene Fangruppen durch innere Demokratie eine gesellschaftliche Alternative vor. Diese Werthaltung blieb dann offenbar auch über die Jahre der formalen Demokratisierung lebendig und präsent. Was zu einem nicht unwesentlichen Grade sicherlich der Tatsache geschuldet ist, daß Brasilien trotz aller wirtschaftlichen Erfolge (mit seinem BIP 2018 auf Rang 9/193 aller Volkswirtschaften laut IWF) ein Gemeinwesen geblieben ist, das hohes Konfliktpotential anhand sozioökonomischer Frontstellungen birgt. Denn die Kluft, die sich zwischen einer exklusiven und immens wohlhabenden Oberschicht auf der einen und einer viel zu breiten unterprivilegierten, bitteramen Unterschicht – ganz zu schweigen von den Ureinwohnern – auf der anderen Seite auftut, ist, wie fast überall in Lateinamerika, allzu groß. Darüber hinaus ist das politische System als notorisch korrupt verrufen (Platz 106/180 laut cpi-Index 2019 von Transparency International), Und schließlich herrscht dort ein latentes Klima der Gewalt vor (Platz 126/163 laut dem Global Peace Index 2020). Bedienungsfaktoren also, die erst einen selbst ernannten „Aufräumer“ wie eben einen J. B. an die Oberfläche spülen konnten. Zum Preis freilich von weiter zunehmender Spaltung, eine Art Paradoxon des Populismus. Gerade unter solch prägenden fragilen Zuständen ist es umso wichtiger, daß sich zumindest Teile der Zivilgesellschaft – denn es gibt in Brasilien natürlich auch Fußball-Anhänger, welche Bolsonaro unterstützen und also dem rechten politischen Spektrum zuzurechnen sind – für zivile Umgangsformen im Alltag und in der Aushandlung politischer Fragen aktiv einsetzen.

Ultras bundesligadeutscher Couleur scheinen dagegen vielmehr allzu satt und saturiert zu sein – wenn man sich bspw. schon eine Dauerkarte und Fahrten zu Auswärtsspielen leisten kann – und darüber hinaus schlichtweg unambitioniert, als daß von dieser Seite ein verantwortungsvolles Eintreten für gesellschaftliche Belange zu erwarten wäre, Erfahrungen mit einer Diktatur existieren fast nur noch aus zweiter Hand, als daß sie in diesem Milieu aktuell handlungsleitend wirken könnten. Und in dem Teil Deutschlands, wo die Konfrontation mit einem diktatorischen Regime noch nicht gar zu lange vorüber ist und also Spuren im kollektiven Gedächtnis bzw. im Alltagsleben hinterlassen haben könnte, fallen gerade „Fans“ unterklassiger Vereine aus Sachsen, Anhalt oder Thüringen immer wieder mit Gewaltbereitschaft  und rechtsradikalen Parolen auf. (Daß es in Ostdeutschland außer Union Berlin – und dem Sonderfall RB Leipzig – keine weiteren Erstbundesligisten gibt und die Anzahl der ostdeutschen Vereine in der Zweiten Liga mehr als überschaubar ist – ohne Aussicht auf Besserung –, ist freilich eine andere Geschichte, Stichwort: „verblühte Landschaften“!) Vielleicht lassen ja die Erfahrungen mit coronalen Einschränkungen oder die aktuelle Protestwelle gegen unverhältnismäßige Polzeigewalt und Rassismus den ein oder anderen „Fußball-Proleten“ hierzulande auch einmal nachdenklich innehalten. Allein darauf zu vertrauen, fällt schwer …

 

Quellen bzw zur weiteren Lektüre:

 

PS: Eine unendliche Geschichte? Allzu späte Einsicht oder Dämlichkeit am Werk, Pt. II

Ist er etwa um seinen guten Ruf in einer künftigen Geschichtsschreibung besorgt? Der plötzliche Aktionismus von Labour-Chef Jeremy Corbyn befremdet doch eher, wirkt unglaubwürdig und kommt wohl eher zu spät. Denn hat er die aktuelle Einbahnstraße von Boris Johnson durch seine intransigente Haltung, durch seine quälende Weigerung, auch nur ein Schrittchen auf Theresa May und ihr zugegeben wohl nicht gerade optimales Austrittsszenario zuzugehen, nicht selbst nach Kräften heraufbeschworen? Hätte er sich beizeiten besonnen, hätte der Brexit – freilich noch immer so unnötig wie ein Kropf – in einer nationalen Kraftanstrengung einer Koalition der Vernünftigen in geordneten Bahnen über die Bühne gehen können, womöglich auch zu vorteilhafteren Konditionen für das Vereinigte Königreich dank einer geeinten „Heimatfront“. Zumal sich beide über das Was ja wohl grundsätzlich einig waren. Stattdessen wird uns nun schon seit Monaten ein Lehrstück der besonderen Art, ein Schmierentheater gegeben, nämlich wie weit es kommt, wenn man persönlichen Eitelkeiten, ideologischer Halsstarrigkeit, politischer Kurzsichtigkeit und populistischer Rücksichtslosigkeit nicht rechtzeitig Einhalt gebietet. Zum Fremdschämen! Denn die Zeche zahlen mal wieder Hinz und Kunz …

PS, 25.09.2019: Weit gefehlt offenbar, Jeremy Corbyn und seine Labour Party können sich nach wie vor nicht zu einer eindeutigen Positionierung über den Brexit aufraffen. Das mag der allgemeinen Spaltung der britischen Gesellschaft geschuldet sein, als deren Spiegelbild die Partei quasi zu betrachten ist. Doch kann es sich eine große traditionsreiche und staatstragende Partei wie Labour angesichts der weiteren krisenhaften Zupitzung einer nicht nur nationalen Frage tatsächlich leisten, andauernd nur herumzulavieren? Gerade auch in diesem Augenblick, wo die Zwangsbeurlaubung des Parlaments durch eine wenig zimperliche Regierung von höchster juristischer Seite als unrechtens verworfen worden ist und also eine glaubwürdige Alternativposition aufgebaut werden müsste? Zweifel daran sind durchaus angebracht, wie auch ein Blick auf aktuelle demoskopische Werte anzuzeigen scheint. Eine größte Oppositionspartei hat in Entscheidungssituationen von historischer Tragweite ernsthafte Orientierung anzubieten, sonst hat sie ihren eigenen Anspruch, Korrektiv einer in diesem konkreten Falle noch dazu entschlossenen Exekutive zu sein, nachgerade verwirkt.

Allzu späte Einsicht oder Dämlichkeit am Werk!

Ist er etwa um seinen guten Ruf in einer künftigen Geschichtsschreibung besorgt? Der plötzliche Aktionismus von Labour-Chef Jeremy Corbyn befremdet doch eher, wirkt unglaubwürdig und kommt wohl eher zu spät. Denn hat er die aktuelle Einbahnstraße von Boris Johnson durch seine intransigente Haltung, durch seine quälende Weigerung, auch nur ein Schrittchen auf Theresa May und ihr zugegeben wohl nicht gerade optimales Austrittsszenario zuzugehen, nicht selbst nach Kräften heraufbeschworen? Hätte er sich beizeiten besonnen, hätte der Brexit – freilich noch immer so unnötig wie ein Kropf – in einer nationalen Kraftanstrengung einer Koalition der Vernünftigen in geordneten Bahnen über die Bühne gehen können, womöglich auch zu vorteilhafteren Konditionen für das Vereinigte Königreich dank einer geeinten „Heimatfront“. Zumal sich beide über das Was ja wohl grundsätzlich einig waren. Stattdessen wird uns nun schon seit Monaten ein Lehrstück der besonderen Art, ein Schmierentheater, gegeben, nämlich wie weit es kommt, wenn man persönlichen Eitelkeiten, ideologischer Halsstarrigkeit, politischer Kurzsichtigkeit und populistischer Rücksichtslosigkeit nicht rechtzeitig Einhalt gebietet. Zum Fremdschämen! Denn die Zeche zahlen mal wieder Hinz und Kunz …

PS, 25.09.2019: Weit gefehlt, Jeremy Corbyn und seine Labour Party können sich nach wie vor nicht zu einer eindeutigen Positionierung zum Brexit aufraffen. Das mag der allgemeinen Spaltung der britischen Gesellschaft geschuldet sein, als deren Spiegelbild die Partei quasi zu betrachten ist. Doch kann es sich eine große traditionsreiche und staatstragende Partei wie Labour angesichts der weiteren krisenhaften Zupitzung einer nicht nur nationalen Frage tatsächlich leisten, andauernd nur herumzulavieren? Gerade auch in diesem Augenblick, wo die Zwangsbeurlaubung des Parlaments durch eine wenig zimperliche Regierung von höchster juristischer Seite als unrechtens verworfen worden ist und also eine glaubwürdige Alternativposition aufgebaut werden müsste? Zweifel daran scheinen durchaus angebracht, wie auch ein Blick auf aktuelle demoskopische Werte anzeigt. Eine größte Oppositionspartei hat in Entscheidungssituationen von historischer Tragweite ernsthafte Orientierung anzubieten, sonst hat sie ihren eigenen Anspruch, Korrektiv einer in diesem konkreten Falle noch dazu entschlossenen Exekutive zu sein, nachgerade verwirkt.

Steinerne Zeugen

Ja, die letzten Zeitzeugen auf beiden Seiten – Angreifer oder Verteidiger, Täter oder Opfer – sterben alsbald hinweg. Und damit vermag bald niemand mehr Zeugnis zu geben von Diktatur, Krieg, Zusammenbruch und Holocaust. Aktive Erinnerung an Geschichte, aus erster Hand quasi, verschwindet von selbst. Eine Herausforderung an die Zivil-Gesellschaft wie die Politik, wie man die Erinnerungskultur künftig verantwortlich zu gestalten hat, jenseits wohlfeiler Betroffenheitsrituale in luftigen Sonntagsreden, auf daß auch der Alltag davon durchdrungen sein möge.

Auf einem ganz anderen Gebiet pflegt man hingegen einen bisweilen wenig zimperlichen Umgang mit Zeugenschaft. Die Rede ist vom Städtebau resp. Denkmalschutz, oder genauer: die Frage nach der Rekonstruktion zerstörter, historischer Bausubstanz – steinerne Zeugen gleichsam der Wirrnisse der Zeiten. Ganze Städte sind nach ihrer zunehmenden Zerstörung im Bombenkrieg ab etwa 1942 bekanntlich bis zur ihrer Unkenntlichkeit wiederaufgebaut worden, man denke dabei bspw. an Heilbronn oder Pforzheim. (In meiner eigenen Geburtsstadt Freiburg verschwanden die letzten Trümmergrundstücke, bis dato als Parkplätze genutzt, im Übrigen erst bis Mitte/Ende der 1980er Jahre.) Manche Ruinen freilich, singuläre Gebäude von hohem symbolischen Wert, häufig auch Gotteshäuser, Mahnmale des Schicksals ihrer Stadt, blieben dagegen lange unbehelligt. So zum Beispiel die Frauenkirche in Dresden. Deren historisierende Rekonstruktion (1994-2005) erfüllte den Schreiber dieser Zeilen bisweilen mit Bauchgrimmen.

Die Frauenkirche zu Dresden

Natürlich wäre es eine konsvervatorische Herausforderung geworden, eine Ruine dauerhaft (begehbar?) zu erhalten und hierbei insbesondere die Sicherheit für Besucher und Passanten zu gewährleisten. Gleichwohl begab man sich damit der einmaligen Gelegenheit, ein Fragezeichen, einen mahnenden Zeigefinger, ein originales Denk-mal! für die Nachwelt zu bewahren, einen Gedenk-Ort zu schaffen um einen Torso, dem im Februar 1945 eben jenes Schicksal widerfuhr, wogegen sich die Mahnung richtet. Stattdessen tilgte man die Zerstörung, damit aber auch die mahnende Erinnerung daran, ein für alle Mal aus dem Stadtbild, so als ob nie etwas geschehen wäre. Und das bloß um der Vereinheitlichung und Harmonisierung, der Überzuckerung des Stadtbildes willen. Die feierliche Weihe fand dann im Oktober 2005 statt.

Das ist nun mittlerweile auch wieder dreizehn Jahre her. Doch auch andernorts in unserer Berliner Republik bricht sich derzeit im Umgang mit historischer Bausubstanz eine bedenkliche, weil homogenisierend-verklärende Geschichtsvergessenheit Bahn. Dem Dresdner Wiederaufbau kann man ja immerhin zugutehalten, daß hier auf noch existente originale Reste aufgebaut worden ist. Vor allem aber ist das historische Ensemble wenig vorbelastet durch die reichsdeutsche Vergangenheit. Davon kann andernorts nun allerdings keineswegs die Rede sein. Ganz im Gegenteil, hie und da scheint eher der preußisch-deutsche Militärgeist fröhlich Urständ zu feiern. Der Bund und das notorisch klamme und in Planungsfragen übel beleumundete Land Berlin (Stichwort „BER“) leisten sich für über eine halbe Milliarde Euro den Wiederaufbau des barock-klassizistischen (Stadt-)Schlosses der Hohenzollern. Just an der Stelle also, wo von 1976-2006 das Vorzeige-Objekt der Ost-Berliner Genossen, der Palast der Republik, auf dem weitläufigen Gelände des Originalbaues stand.

Der künftige Schloßplatz zu Berlin – © Sandy Lunitz

Und nur wenige Kilometer in südwestlicher Richtung entfernt, wird gerade das Zentrum Potsdams dem Erdboden gleichgemacht. Funktionsbauten aus den 1960/70er Jahren  im Stile des zeitgenössischen Brutalismus (u. a. ein Rechenzentrum oder Gebäude der hiesigen FH) müssen n. a. dem Wiederaufbau der Garnisonskirche weichen, zunächst offenbar nur des Glockenturms; dem aber das Kirchenschiff wohl unweigerlich folgen wird. So als ob im Westen niemals ähnlich unterkühlte und deshalb gerade realistische, zeit-adäquate und also eigentlich erhaltenswerte Gebäudekomplexe errichtet worden wären. Hat denn das architektonische Erbe der DDR absolut keine Daseinsberechtigung, sind denn die materiellen Hinterlassenschaften des anderen deutschen Staates jenseits von SED-Diktatur und Stasi-Verfolgung automatisch weniger wert? Ein nachgeholter Abrechnungsfuror gleichsam gegen die vermeintlich steingewordene Ideologie des im Wettstreit der Gesellschaftssysteme unterlegenen Gegners von einst. Bei oberflächlicher Betrachtung wird hier also durch Steuergelder ein weiterer barockisierender Prachtbau errichtet, in dessen Glanz und Gloria sich die neureichen Promi-Neubürger der ehemaligen Residenzstadt zu sonnen und lustwandeln gedenken. Doch angesichts der Vergangenheit dieses Kirchenbaus als DAS Symbol der unseligen Symbiose aus etatistischem deutschen Protestantismus und preußisch-deutschem, nationalen Machtstaat, kulminierend im Tag von Potsdam (21.03.1933), scheint die Frage mehr als berechtigt, welcher Geist hier tatsächlich am Wirken ist.

Modell des Turmes der (neuen) Garnisonskirche zu Potsdam

Man kann solcherlei Bau-Projekte vorwärts in die Vergangenheit noch so wohlmeinend erinnerungspolitisch und geschichtsdidaktisch begleiten; allein daß sie heutzutage gedacht, geplant, schließlich dann (in Teilen zumindest) mehrheitsfähig und also errichtet werden können, sagt doch einiges über die Befindlichkeiten unserer Gesellschaft, unserer politischen Kultur aus. Einerseits weitverbreitete Schlußstrich-Mentalität, andererseits Sehnsucht nach ornamentaler (oder gar imperialer?) Größe und oberflächlichem Glanz, nach kitschiger Kulisse und barocker Betäubung. Revisionismus und Populismus scheinen mithin im Zentrum unserer Städte, in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen zu sein. Und die AfD ist nur e i n Symptom hiervon.

Wie ich vorigen Monat mit einem alten Freund durch Hamburg streifte, fragten wir uns immer wieder, was denn das für ein Turm sei, der alles andere überragend aus der Silhouette der Stadt hervorsticht, dabei aber seltsam düster und trostlos wirkt. Es handelt sich um den Turm der ehemaligen, neogotischen Hauptkirche der alten Hansestadt, St. Nikolai, – mit 147 m einstmals das höchste Gebäude der Welt. Dieser trotzte dem Feuersturm der Flächenbombardements auf Hamburg im Juli/August 1943.

Der Turm-Torso der ehemaligen Hauptkirche St.-Nikolai inmitten einer scheinbar gerade erst geräumten Trümmerlandschaft – © LuxOr, 07.18

Politik und Kirche fällten dann die für die quietistischen, fortschrittsgläubigen und wirtschaftswunderbeseelten 1950/60er Jahre bemerkenswert weitsichtige Entscheidung, den Turm-Torso als Mahnmal der Nachwelt zu erhalten. Auch wenn er dann im Anschluß erst einmal – jahrzehntelang vernachlässigt – zusehends verfiel. Bis  Ende der 1980er Jahre auf private Initiative hin durch Spenden wieder Bewegung in die Angelegenheit kam. Der Turm konnte gesichert (und bis Anfang diesen Jahres erneut aufwändig saniert) werden, und auf halber Höhe wurde eine Aussichtsplattform samt Außenlift installiert. Verschiedene Exponate – ein Mosaik und Skulpturen – laden künstlerisch zur Reflexion und Kontemplation ein. In der Krypta schließlich wurde ein Informationszentrum samt Dauerausstellung zum Bombenkrieg auf Hamburg eingerichtet. Historische Bauten – Ruinen zumal, auch vermeintlich häßlich-ungestaltes – sprechen zu uns in ihrer ganz eigenen Sprache. Man muß nur den Willen aufbringen, zu hören …

Aufrecht!

Welch ein Glück, mag der interessierte, gleichwohl irritierte Beobachter der vergangenen Tage verzweifelt-erleichtert aufseufzen, daß sich nach all der (personal-)politischen Narretei der sozialdemokratischen Sandkastenkontrahenten noch eine bundespolitisch bislang unbekannte Parteifrau aus dem hohen Norden (wenn auch gebürtige Thüringerin) so weit ermannte, der personellen Sturzgeburt in Sachen Parteivorsitz wenigstens den Hauch einer demokratischen Wahl und damit eines Neuanfangs zu geben.

Andrea Nahles mag nach den Ereignissen der letzten Tage und Wochen tatsächlich die geeignete (weil wohl einzige) Kandidatin für den Parteivorsitz sein; mit Leidenschaft, Verve und Kampfgeist setzte sie sich nach innen wie außen für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen (auch wenn der Verfasser dieser Zeilen aus den letzthin vielfach bemühten staatspolitischen Überlegungen heraus die Espede lieber zur Regeneration in der Opposition gewußt hätte) wie für die innerparteiliche Annahme des Koalitionsvertrages ein und konnte damit ihre Zuhörerschaft mitreißen, zumindest im Vergleich mit ihrem damaligen Vorsitzenden. Und auch als Ministerin für Arbeit und Soziales machte sie im Großen und Ganzen eine gute Figur. Dennoch haftete ihr im Falle einer allzu raschen Inthronisation der Makel an, nur dank der Kungelei mit dem gelinde gesagt unglücklich agierenden Martin Schulz auf das Schild gehoben worden zu sein. Nach dem gerade erlebten Hauen und Stechen präpotenter Möchtegerns wäre das kein überzeugendes Signal eines auf einem neuen Gemeinschaftsgeist aufbauenden programmatischen Neuanfangs an die ohnehin merklich grummelnde Basis wie die interessierte Öffentlichkeit gewesen. Der Aufruhr ist also durchaus nachvollziehbar. Nicht viel besser sähe es aus, wenn Frau Nahles am 22. April nun ganz ohne GegenkandidatIn in das schönste Amt neben dem Papst gewählt würde. Aus diesem Grunde  ist die Kandidatur der Oberbürgermeisterin von Flensburg, Simone Lange, nur zu begrüßen.

Gut möglich, daß sie ein reiner Zählkandidat bleiben wird. Gänzlich aussichtlos scheint mir die Angelegenheit allerdings auch nicht zu sein, ein Achtungserfolg könnte immerhin drin sein. Klar, Frau Lange ist bundespolitisch bislang nicht präsent, demnach mutmaßlich wenig vernetzt und also ohne das, was man im Polit-Jargon gerne Seilschaft oder Hausmacht zu nennen pflegt. Gleichwohl ist dieser Mangel auch ihr großer Pluspunkt, geht sie doch als frisches Gesicht gänzlich unbelastet (nicht nur) von den Auseinandersetzungen um GroKo – oder eben nicht – ins Rennen. Sie ist jung, weiblich noch dazu und Mutter (was derlei Ambitionen freilich für eine Familie bedeutet, steht auf einem anderen Blatt), hat Parlamentserfahrung auf Kommunal- und Landesebene und amtiert seit einem Jahr als OB einer norddeutschen Mittelstadt.  Was ihr zudem zum Vorteil gereicht, nicht zuletzt auch angesichts populistischer Vorwürfe an die Politikerkaste, ist, daß sie als ehemalige Sachbearbeiterin der Kriminalpolizei beruflich wie gesellschaftlich Bodenhaftung ausstrahlt und zugleich Kompetenzen auf dem immer wieder virulenten Gebiet der inneren Sicherheit mitbringt.

Das alles mag noch keine glücklich-souveräne Parteivorsitzende machen und fraglich bliebe zweifellos, wie sich eine Frau Vorsitzende Lange denn gegen altgediente mächtige Landesfürsten, Bundestagssenioren und erfolgreiche MinisterpräsidentInnen durchsetzen könnte (auch wenn es deren in den Reihen der Sozialdemokratie auch nicht mehr so viele gibt). Zumal sich die altehrwürdige, dieser Tage aber geschüttelte Espede wohl eher für die Bundes-Polit-Profin und eine damit verbundene, zumindest nicht gänzlich unwahrscheinliche Aussicht auf eine Rückkehr zu einem Plätzchen an der Sonne aussprechen wird denn für einen verhältnismäßig unsicheren, polit-romantischen Wechsel auf die Zukunft.  Und dennoch: um die Wogen erstmal etwas zu glätten und die Partei wieder in ruhigere Gewässer zu bringen, indem man einen Parteitag zumindest vor eine echte Wahl stellt (die anstehende Mitgliederbefragung über den Koalitionsvertrag ist dagegen demokratie-theoretisch mehr als zweifelhaft), kann der gerupften sozialdemokratischen Führung eigentlich nichts Besseres widerfahren (auch wenn der ewige Stegner bereits wieder stichelt). Und schließlich sei noch daran erinnert: auch Helmuts Mädchen wurde einstmals unterschätzt …