In den allfälligen Rückblicken auf das Jahr steht allenthalben zu lesen, welche Reisen man nicht unternommen, welche Kultur-& Sportevents man nicht besucht oder welche Partys man nicht geschmissen habe. Das nächste Jahr werde darum umso aufregender. Komme man mir hier bitte nicht mit der ohnehin über Gebühr bemühten Freude am Leben – diese läßt sich jedenfalls nicht anhand der Länge der überwundenen Distanz oder der Menge der geleerten und achtlos weggeworfenen Bier- oder Weinflaschen oder der Gewalt und Lautstärke der wummernden Beats bemessen -, das ist Jammern auf hohem Niveau. Oder hat man da überhaupt etwas begriffen? Haben Ruhe und Einkehr weder Wert noch Wirkung? (Nie mehr wieder wird es wohl so angenehm still sein um mein Elternhaus herum in der ehemals stillsten Zeit im Jahr .. !) Ist die innere Öde so fortgeschritten, daß man allein in der betäubenden Sines-Berieselung und Beschleunigung meint Zuflucht finden zu können? In China wurde derweil eine Bloggerin und Journalistin zu vier Jahren Haft verurteilt, da sie „Streit gestiftet und Unruhe geschürt“ habe. Ihr Verbrechen: Im Frühjahr hat sie Videos über die erbärmlichen Zustände in Wuhan hochgeladen.
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Der Schein der Sonne …
oder welche Art von Verrat.
(…) Aber die Stadt war zum Staunen. Sie war nichts als ein dunkler, schieferfarbener Strich, aus dem die Türme aufwuchsen. Gregor zählte sie: sechs Türme. Ein Doppelturm und vier einzelne Türme, die Schiffe ihrer Kirchen weit unter sich lassend, als rote Blöcke in das Blau der Ostsee eingelassen, ein riesiges Relief. Gregor stieg vom Rad und betrachtete sie. Er war auf diesen Anblick nicht gefaßt. Sie hätten es mir sagen können, dachte er. Aber er wußte, daß die Leute im Zentralkomitee für so etwas keinen Sinn hatten. Für sie war Rerik ein Platz wie jeder andere, ein Punkt auf der Landkarte, in dem sich eine Zelle der Partei befand, eine Zelle hauptsächlich aus Fischern und den Arbeitern einer kleinen Werft. Vielleicht war auch nie jemand vom Zentralkomitee in Rerik gewesen. Sie hatten keine Ahnung, daß es hier diese Türme gab. Und wenn sie es wußten, so würden sie doch nur über Gregors Ansicht lachen, daß solche Türme einen Einfluß auf die Parteiarbeit hätten. Wenn Gregor ihnen gesagt hätte, was er im Anblick von Rerik dachte, daß man nämlich in einer Stadt, in der es solche Türme gab, mit ganz anderen Argumenten arbeiten müsse als mit denen, die für gewöhnlich in den Flugblättern standen, so hätten sie nur die Schultern gezuckt. Bestenfalls hätten sie gesagt: dort wohnen genau die gleichen Menschen wie auf dem Wedding. Und das war richtig. Die Fischer von Rerik waren sicherlich genau die gleichen Menschen wie die Arbeiter von Siemensstadt. Aber sie wohnten unter den Türmen. Sie wohnten selbst dann noch unter ihnen, wenn sie auf die See hinausfuhren. Denn die Türme waren auch Seezeichen.
Von ihnen aus muß die See bis an die Grenze des Hoheitsgebietes zu beobachten sein, dachte Gregor. Sieben Meilen. Sieben Meilen Flucht lagen im Blick dieser Türme. Aber auf keinen Fall saßen die Anderen in den Turmluken. Das war eine gute Sache, dachte Gregor, daß es keine Türme für die Anderen waren. Wer saß denn darin? Niemand saß darin. Es waren leere Türme.
Aber obwohl die Türme leer waren, fühlte sich Gregor von ihnen beobachtet. Er ahnte, daß es schwierig sein würde, unter ihren Blicken zu desertieren. Er hatte es sich ziemlich einfach vorgestellt: sein letzter Instrukteurauftrag lautete auf Rerik, er würde ihn ausführen und dabei den Verbindungsmann aus Rerik über die Hafen- und Transportverhältnisse ausforschen. Aber er hatte nicht mit diesen Türmen gerechnet. Sie sahen alles. Auch einen Verrat.
Plötzlich erinnerte sich Gregor daran, daß er sich schon einmal von einem Hügel aus einer Stadt am Meer genähert hatte. Die Stadt hatte Tarasovka geheißen. Tarasovka auf der Halbinsel Krim. Es war Abend geworden, und sie hatten endlich die Erlaubnis bekommen, die Luken der Panzer zu öffnen, und Gregor war sogleich mit dem Oberkörper durch die Luke gekrochen, um frische Luft zu schöpfen, den Abendwind eines Manövertags der Roten Armee. Da hatte er die Stadt drunten am Fuß der Steppenhügel liegen sehen, ein Gewirr aus grauen Hütten an der Küste eines golden schmelzenden Meeres – ganz anders war diese Stadt gewesen als Rerik mit seinen roten Türmen vor dem eisigen Blau der Ostsee -, und der Genosse Leutnant Choltschoff, aufrecht in der Luke des Panzers, der vor Gregors Panzer fuhr, hatte ihm zugerufen: Das ist Tarasovka, Grigorij! Wir haben Tarasovka genommen! Gregor lachte zurück, aber es war ihm gleichgültig, daß die Tankbrigade, der er als Manövergast zugeteilt war, Tarasovka genommen hatte, er war plötzlich fasziniert von dem goldenen Schmelzfluß des Schwarzen Meeres und dem grauen Gestrichel der Hütten am Ufer, ein schmutzig-silbernes Gefieder, das sich zusammenzuziehen schien unter der Drohung eines dumpf dröhnenden Fächers aus fünfzig Tanks, aus fünfzig dröhnenden Wolken Steppenstaubs, aus fünfzig Pfeilen eisernen Staubs, gegen die Tarasovka den goldenen Schild seines Meeres erhob. Und Gregor sah, wie der Kommandeur, im vordersten Panzer stehend, seinen Arm erhob; das Dröhnen erstarb, die große Steppenbewegung stand still, und die Wolken Staubs erhoben sich zu Schleiern, zu Fahnen, die sich senkten vor dem Schild aus Gold. Unter seinem Gefieder aus fünfhundert grauen Hütten begann Tarasovka wieder zu atmen, ehe der Tag erlosch.
Im Anblick Reriks erinnerte Gregor sich an Tarasovka, weil dort sein Verrat begonnen hatte. Der Verrat hatte darin bestanden, daß ihm, als einzigem, der goldene Schild wichtiger gewesen war als die Einnahme der Stadt. Gregor konnte nicht feststellen, ob Choltschoff und die übrigen Offiziere und Soldaten den Schild überhaupt gesehen hatten; sie sprachen nur über ihren Sieg. Für Choltschoff war Tarasovka eine Stadt, die zu erobern war; für die Genossen des Zentralkomitees war Rerik ein Punkt, der gehalten werden mußte – es gab keine goldenen Schilde, die sich erhoben, keine roten Riesentürme, die Augen hatten.
Vielleicht hatte der Verrat schon früher begonnen, vielleicht schon in einem plötzlichen Ermüden während einer Vorlesung in der Lenin-Akademie, auf die der Jugendverband Gregor geschickt hatte, für seine organisatorischen Verdienste in Berlin. Es wäre besser gewesen, wenn sie mich nie dorthin geschickt hätten, dachte Gregor, in das Land, in dem wir gesiegt haben. Wenn der Sieg errungen war, hatte man Zeit, sich für anderes zu interessieren als für den Kampf. Sie hatten ihm zwar gepredigt, auch in ihrem Lande ginge der Kampf weiter, aber ein Kampf nach dem Sieg war etwas ganz anderes als ein Kampf vor dem Sieg. Am Abend von Tarasovka hatte Gregor begriffen, daß er Siege haßte.
Was hatte er aus Moskau mitgebracht? Nichts als einen Namen. In die Lenin-Akademie trat man ein wie in ein Kloster: man legte seinen Namen ab und wählte einen neuen. Er ließ sich Grigorij nennen. Während er in Moskau die Technik des Sieges studierte, hatten die Anderen in Berlin gesiegt. Man schickte ihn über Wien zurück, mit einem falschen Paß, der auf den Namen Gregor lautete. Er lernte eine dritte Form des Kampfes kennen: den Kampf nach einer Niederlage. In den Kampfpausen dachte er an den goldenen Schild von Tarasovka. Die Genossen im Zentralkomitee waren nicht mit ihm zufrieden. Sie fanden, er sei flau geworden.
Alfred Andersch: Sansibar oder der letzte Grund. Roman, Zürich 1970 (EV 1957), S. 20-23.
Photographie (noch mittels eines vorsintflutlichen Nokia-Handys vor bald zehn Jahren)
© LuxOr
Angestoßen: Denn das Gute liegt so nah …
Ja, bisweilen bedarf es bloß eines kleinen Anstoßes von außen, einer überraschenden Begegnung vielleicht und eines lust- und launig machenden Schwätzchens. Und wir sind angeregt und realisieren, was wir bis dato versäumt haben und also gerne alsbald nachholen mögen und nachempfinden. Einen Sonnaufgang beispielsweise … (aber nicht nur.)
Des Abends:
Und des frühen Morgens:
Dito – eine Woche später (und um einen Kamera-Kniff weiser …):
Denn ruht das Göttliche nicht doch auch in den Dingen, zumal in der Natur? Wie ehrfürchtig sollten wir eigentlich sein angesichts dieser verschwenderischen Schönheit, dieser freigebigen Laune direkt vor unserer Haustür – immer wieder einzigartig, immer wieder staunenswert. Und wie ignorant und vermessen zu meinen, dieses wunderbare Schauspiel in immer weiterer Entfernung suchen zu müssen bzw. bloß noch finden zu können. Und wieviel haben uns schließlich die wenig verbliebenen Naturvölker voraus …