ruht der See – eine Winterspätlese
Am Waldsee
Im Ried
Um den Litzelsee
Photographie © LuxOr
Im Märzen ’19 weilte ich anläßlich einer Usschdellig mal wieder in Zürich. Welche Kunstrichtung bzw. welches Thema mich damals tatsächlich zu dem Besuch animierte, weiß ich heute leider gar nicht mehr zu sagen. Doch aus zweierlei Gründen blieb mir dieser Cooltour-Trip anschließend in Erinnerung.
Zunächst verfuhr ich mich nämlich böse, da ich am Autobahn-Ende statt rechts runter abzubiegen geradeaus fuhr. Ich bildete mir nämlich ein, ich würde den rechten Weg rein aus der Erinnerung finden und hatte demnach überhaupt keine smarte Wegunterstützung zur Hand. Das mag für sich genommen zunächst gar nicht tragisch sein. Sind doch Männer per se die geborenen Pfadfinder ;-). Ich fuhr indes, aus lauter Freude darüber, daß ich mich einigermaßen wieder orientiert hatte, offenbar bei Rot über eine Ampel. Was ich freilich überhaupt nicht bemerkte, zumal auch kein Blitzer auslöste. Für mich überquerte ich den Strich noch bei Gelb. Der Wochen später eingetrudelte Strafzettel wies jedoch etwas anderes aus. Zähneknirschend bezahlte ich das nicht zu knappe Sümmchen, da ich mir ziemlich sicher war, daß ein Widerspruch hier nicht fruchten würde. Außer Spesen nix jewesen …
Davon wußte ich damals natürlich noch nichts. Wie ich also das Museumsgebäude wieder verließ, strahlte mich die Frühlingssonne so verführerisch an, daß ich spontan beschloß, noch ein wenig zu bleiben und in den nahen Gässchen der Altstadt bzw. unten an Fluß und See herumzuschlendern. Zumal ich ja auch meine extra mitgebrachte Butterbrezel ihrer Bestimmung zuführen wollte, denn Cooltour-Genuß kann durchaus hungrig machen. Gedacht, getan: munter kauend und mit einem wachen Photo-Blick tigerte ich also los. Nach einem Abstecher ins Grossmünster – wo ich natürlich meinen Heißhunger nochmals bemeisterte – strebte ich die Uferstraße an der Limmat entlang und wechselte auch das Ufer hinüber zum Fraumünster, welches freilich so stark frequentiert schien, daß ich kurzerhand darauf verzichtete, die Chagall-Bilder dorten aufzusuchen. Ihr geheimnisvolles Blau hatte ich glücklicherweise schon bei anderer Gelegenheit bewundern können. Schließlich trieb es mich direkt ans Wasser (ob nun des Sees oder der Limmat, weiß ich leider nie so genau). Auf diesem spontanen Streifzug entstanden einige Photos. Irgendwie besonders angetan haben es mir freilich die folgenden „Untersichten“, warten doch auch unter Brücken manch überraschend ansprechende Ausblicke auf Entdeckung. Der junge Mann im weißen Anorak fütterte übrigens die diversen Wasservögel. Er, das mittelalterliche Paar, das braven Statisten gleich so stille stand, und alle anderen sind mir jedenfalls gänzlich unbekannt.
Der beseelende Sonnenschein begleitete mich übrigens noch die ganze Rückfahrt über. Weshalb ich, wieder zurück in der Heimat, kurzerhand noch einen Schlenker gen Westen einlegte, nun den Sonnenuntergang an „meinem“ See zu photographieren. Zuhause ließ ich den Abend dann gemütlich ausklingen. Ich hatte einen kurzweiligen Tag mit eindrücklichen Bildern erleben dürfen und startete nun zufrieden und frohgemut in die anstehenden Ferien.
Photographie © LuxOr
Photographie © LuxOr
Wie ich mich aufmachte gen alternativen Filmabend mit vorheriger feiner Verköstigung aus der Restedose und lecker Bierchen, ging just in dem Moment, als ich mein Garagentor schloß, ein leichter Hagelschauer über mir nieder. Gleichwohl vermochte ich noch halbwegs trockenen Textils in mein Vehiculo zurückzuhuschen. Die ersten Kilometer fuhr ich dann jedenfalls durch Starkregen hindurch. Nach etwa der starken Hälfte meiner Wegstrecke klärte sich der Himmel allerdings wieder etwas und der Regen stellte seine nährende Tätigkeit peu-à-peu ein. Anlaß genug für mich, unterwegs zum naheliegenden Badestrande abzubiegen. Zumal meinem Gastgeber meine akademische Auslegung, was Über-Pünktlichkeit anbetrifft (allzeit „cum tempore“!), durchaus nicht unbekannt ist. (Ich kann allerdings auch durchaus anders, gell! Auch wenn ich bisweilen e bissel verpeilt scheine … ) So lief ich also geschwind am ebenfalls dorten befindlichen Restaurant mit Beherbungsbetrieb vorbei über die herbstlich-bunte Wiese auf den kleinen Bade-& Boots-Anleger zu, wo dann eben dieses Photi entstand. Während also in meinem Rücken das regenschwere gräuliche Gewölke unbeirrt gen Osten weiterzog, bewahrheitete sich von Westen her das alte Wort, daß auf jeden Regen sicher auch wieder Sonnenschein folgt, wenn auch bloß als lichte Verheißung in der Ferne. Und daß gerade das Stadium des Dazwischen, der Moment des Übergangs, des Nicht-Mehr und des Noch-Nicht-Wieder, beeindruckende Ausblicke bereithalten kann. Deshalb sollte ich mich vielleicht einfach öfters mal auch bei schaurigem Wetter draußen tummeln, schlechte Kleidung nun hin oder her …
(…) Aber die Stadt war zum Staunen. Sie war nichts als ein dunkler, schieferfarbener Strich, aus dem die Türme aufwuchsen. Gregor zählte sie: sechs Türme. Ein Doppelturm und vier einzelne Türme, die Schiffe ihrer Kirchen weit unter sich lassend, als rote Blöcke in das Blau der Ostsee eingelassen, ein riesiges Relief. Gregor stieg vom Rad und betrachtete sie. Er war auf diesen Anblick nicht gefaßt. Sie hätten es mir sagen können, dachte er. Aber er wußte, daß die Leute im Zentralkomitee für so etwas keinen Sinn hatten. Für sie war Rerik ein Platz wie jeder andere, ein Punkt auf der Landkarte, in dem sich eine Zelle der Partei befand, eine Zelle hauptsächlich aus Fischern und den Arbeitern einer kleinen Werft. Vielleicht war auch nie jemand vom Zentralkomitee in Rerik gewesen. Sie hatten keine Ahnung, daß es hier diese Türme gab. Und wenn sie es wußten, so würden sie doch nur über Gregors Ansicht lachen, daß solche Türme einen Einfluß auf die Parteiarbeit hätten. Wenn Gregor ihnen gesagt hätte, was er im Anblick von Rerik dachte, daß man nämlich in einer Stadt, in der es solche Türme gab, mit ganz anderen Argumenten arbeiten müsse als mit denen, die für gewöhnlich in den Flugblättern standen, so hätten sie nur die Schultern gezuckt. Bestenfalls hätten sie gesagt: dort wohnen genau die gleichen Menschen wie auf dem Wedding. Und das war richtig. Die Fischer von Rerik waren sicherlich genau die gleichen Menschen wie die Arbeiter von Siemensstadt. Aber sie wohnten unter den Türmen. Sie wohnten selbst dann noch unter ihnen, wenn sie auf die See hinausfuhren. Denn die Türme waren auch Seezeichen.
Von ihnen aus muß die See bis an die Grenze des Hoheitsgebietes zu beobachten sein, dachte Gregor. Sieben Meilen. Sieben Meilen Flucht lagen im Blick dieser Türme. Aber auf keinen Fall saßen die Anderen in den Turmluken. Das war eine gute Sache, dachte Gregor, daß es keine Türme für die Anderen waren. Wer saß denn darin? Niemand saß darin. Es waren leere Türme.
Aber obwohl die Türme leer waren, fühlte sich Gregor von ihnen beobachtet. Er ahnte, daß es schwierig sein würde, unter ihren Blicken zu desertieren. Er hatte es sich ziemlich einfach vorgestellt: sein letzter Instrukteurauftrag lautete auf Rerik, er würde ihn ausführen und dabei den Verbindungsmann aus Rerik über die Hafen- und Transportverhältnisse ausforschen. Aber er hatte nicht mit diesen Türmen gerechnet. Sie sahen alles. Auch einen Verrat.
Plötzlich erinnerte sich Gregor daran, daß er sich schon einmal von einem Hügel aus einer Stadt am Meer genähert hatte. Die Stadt hatte Tarasovka geheißen. Tarasovka auf der Halbinsel Krim. Es war Abend geworden, und sie hatten endlich die Erlaubnis bekommen, die Luken der Panzer zu öffnen, und Gregor war sogleich mit dem Oberkörper durch die Luke gekrochen, um frische Luft zu schöpfen, den Abendwind eines Manövertags der Roten Armee. Da hatte er die Stadt drunten am Fuß der Steppenhügel liegen sehen, ein Gewirr aus grauen Hütten an der Küste eines golden schmelzenden Meeres – ganz anders war diese Stadt gewesen als Rerik mit seinen roten Türmen vor dem eisigen Blau der Ostsee -, und der Genosse Leutnant Choltschoff, aufrecht in der Luke des Panzers, der vor Gregors Panzer fuhr, hatte ihm zugerufen: Das ist Tarasovka, Grigorij! Wir haben Tarasovka genommen! Gregor lachte zurück, aber es war ihm gleichgültig, daß die Tankbrigade, der er als Manövergast zugeteilt war, Tarasovka genommen hatte, er war plötzlich fasziniert von dem goldenen Schmelzfluß des Schwarzen Meeres und dem grauen Gestrichel der Hütten am Ufer, ein schmutzig-silbernes Gefieder, das sich zusammenzuziehen schien unter der Drohung eines dumpf dröhnenden Fächers aus fünfzig Tanks, aus fünfzig dröhnenden Wolken Steppenstaubs, aus fünfzig Pfeilen eisernen Staubs, gegen die Tarasovka den goldenen Schild seines Meeres erhob. Und Gregor sah, wie der Kommandeur, im vordersten Panzer stehend, seinen Arm erhob; das Dröhnen erstarb, die große Steppenbewegung stand still, und die Wolken Staubs erhoben sich zu Schleiern, zu Fahnen, die sich senkten vor dem Schild aus Gold. Unter seinem Gefieder aus fünfhundert grauen Hütten begann Tarasovka wieder zu atmen, ehe der Tag erlosch.
Im Anblick Reriks erinnerte Gregor sich an Tarasovka, weil dort sein Verrat begonnen hatte. Der Verrat hatte darin bestanden, daß ihm, als einzigem, der goldene Schild wichtiger gewesen war als die Einnahme der Stadt. Gregor konnte nicht feststellen, ob Choltschoff und die übrigen Offiziere und Soldaten den Schild überhaupt gesehen hatten; sie sprachen nur über ihren Sieg. Für Choltschoff war Tarasovka eine Stadt, die zu erobern war; für die Genossen des Zentralkomitees war Rerik ein Punkt, der gehalten werden mußte – es gab keine goldenen Schilde, die sich erhoben, keine roten Riesentürme, die Augen hatten.
Vielleicht hatte der Verrat schon früher begonnen, vielleicht schon in einem plötzlichen Ermüden während einer Vorlesung in der Lenin-Akademie, auf die der Jugendverband Gregor geschickt hatte, für seine organisatorischen Verdienste in Berlin. Es wäre besser gewesen, wenn sie mich nie dorthin geschickt hätten, dachte Gregor, in das Land, in dem wir gesiegt haben. Wenn der Sieg errungen war, hatte man Zeit, sich für anderes zu interessieren als für den Kampf. Sie hatten ihm zwar gepredigt, auch in ihrem Lande ginge der Kampf weiter, aber ein Kampf nach dem Sieg war etwas ganz anderes als ein Kampf vor dem Sieg. Am Abend von Tarasovka hatte Gregor begriffen, daß er Siege haßte.
Was hatte er aus Moskau mitgebracht? Nichts als einen Namen. In die Lenin-Akademie trat man ein wie in ein Kloster: man legte seinen Namen ab und wählte einen neuen. Er ließ sich Grigorij nennen. Während er in Moskau die Technik des Sieges studierte, hatten die Anderen in Berlin gesiegt. Man schickte ihn über Wien zurück, mit einem falschen Paß, der auf den Namen Gregor lautete. Er lernte eine dritte Form des Kampfes kennen: den Kampf nach einer Niederlage. In den Kampfpausen dachte er an den goldenen Schild von Tarasovka. Die Genossen im Zentralkomitee waren nicht mit ihm zufrieden. Sie fanden, er sei flau geworden.
Alfred Andersch: Sansibar oder der letzte Grund. Roman, Zürich 1970 (EV 1957), S. 20-23.
Photographie (noch mittels eines vorsintflutlichen Nokia-Handys vor bald zehn Jahren)
© LuxOr
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und die Sonne allmählich im Meer versinkt,
werden Enten wunderfitzig und kommunikativ!
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