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Weder Dichter und Denker noch Leser und Lenker

Laut der kürzlich veröffentlichten PISA-Studie der OECD können 21 Prozent aller Schüler im Alter von 15 Jahren in Deutschland, also jeder Fünfte, „nicht sinnverstehend lesen“. Diese Leseschwäche komme der Lesekompetenz von sogenannten funktionalen Analphabeten gefährlich nahe, welche hierzulande einen Anteil von 6, 2 Mio Betroffenen ausmachen, wie der hier zugrundeliegende FAZ-Artikel ausweist.

Womöglich mangelt es bereits an einer Grundvoraussetzung, ohne welche die Schule dann allzu häufig nicht mehr viel anderes leisten kann, als diesen Mangel zu verwalten. Denn vermutlich wurde allztu vielen dieser heute 15-Jährigen schon kaum mehr von ihren Eltern vorgelesen; und somit wurden sie auch nicht an das selbständige Lesen herangeführt. (Hierfür brauchen jedoch nicht zwangsläufig die viel zitierten bildungsfernen Schichten mit Migrationshintergrund bemüht zu werden, denn dieser Verlust ist sicherlich auch in deutschen Familien zu beobachten. Wie sich das Problem allerdings künftig entwickelt angesichts einer dann zunehmenden Anzahl mit der Flüchtlingsbewegung von 2015 eingewanderter schulpflichtiger Jugendlicher, steht auf einem anderen Blatt).

Die Bildungspolitik wäre ansonsten gut beraten, die Lesefähigkeit (und -freude) als gundlegende Kulturtechnik  entschlossen bereits im Vorschul- bzw. Grundschulalter, und dann auch geschlechtsspezifisch, zu fördern, bspw. durch ausgedehnte Übungszeit, wie hier auch vorgeschlagen. Dies sollte jedenfalls geschehen, bevor man einen milliardenschweren Digitalpakt, im Grunde auch bloß eine Art staatliche Subventionierung der entsprechenden Industrien im IKT-Bereich, den Schulen auf-er-legt, der konzeptionell (nicht bloß) vor Ort noch lange nicht ausgereift zu sein scheint, wie der Artikel weiter unten ausführt. Mit diesem Geld ließe sich jedenfalls problemlos die akademische wie praktische Ausbildung von Erziehern und Lehrern, auch unter Einbeziehung von Ergebnissen der Bildungsforschung auf dem Gebiet der Leseförderung, weiterentwickeln. Anstatt sein Heil immer in Schulreformen und Reformen der Reformen zu suchen. Und mal ganz zu schweigen davon, hier überhaupt mehr und im Primarbereich auch besser entlohnte Stellen bzw. kleinere Klassen zu schaffen.

Ein persönliches Anliegen des Verfasssers dieser Zeilen wäre es schließlich, Subventionen, welche man der ach so gemeinwohlorientierten und insbesondere Lesekompetenz fördernden Computerspielbranche zukommen läßt, unkompliziert umzuwidmen und der Bildung zuzuführen. Andernfalls steht doch zu befürchten, daß sich diese Tendenz noch weiter verstärkt. Denn Lesen ist und ermöglicht erst Bildung, befähigt erst dazu, gesellschaftlichen wie politischen Herausfoderungen, global, national oder auch lokal, adäquat begegnen zu können.

Wenn eine naive Justiz das Geschäft von Rechtsextremen betreibt …

Heute in der Allgemeinen Zeitung für Deutschland zu lesen:

„Wahlplakate der NPD mit dem Aufdruck „Migration tötet“, die die rechtsextreme Partei während des Europawahlkampfes verwendet hatte, erfüllen nicht den Tatbestand der Volksverhetzung. Das geht aus einem Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen (Az.: 4 K 2279/19.GI) hervor, das bereits Anfang August erging und über welches das Redaktionsnetzwerk Deutschland und das Rechtsmagazin „Legal Tribut Online“ am Samstag berichteten.

„Nach vorstehenden Ausführungen ist der Wortlaut des inkriminierten Wahlplakats ‚Migration tötet‘ nicht als volksverhetzend zu qualifizieren, sondern als die Realität teilweise darstellend zu bewerten“, heißt es in dem Beschluss. Zur Begründung führt der verantwortliche Richter den Verlauf von Wanderungsbewegungen aus der Zeit von 3000 vor Christi Geburt bis in die Gegenwart ins Feld. Zudem verweist er auf Zahlen, die für Deutschland belegen sollen, dass es durch Zuwanderer zu mehr Sexual- und Tötungsdelikten gekommen sei.

Einen besonderen Einfluss weist er den Folgen der Flüchtlingskrise von 2014 an zu. Sie habe die Gesellschaft verändert, zum Tode von Menschen geführt und könne langfristig das Ende der freiheitlich demokratischen Grundordnung in Deutschland nach sich ziehen.

Der NPD dürfe es daher nicht verwehrt werden, „mit den Plakaten auf möglicherweise in Deutschland herrschende Missstände hinzuweisen und für ihre Ziele zu werben“, sagte der Richter, der damit zugleich auf den Auslöser der Klage zurückkam. Vor der Europawahl waren in der hessischen Gemeinde Ranstadt (Wetteraukreis) im Mai dieses Jahres Plakate der rechtsextremen Partei entfernt worden. Bürgermeisterin Cäcillia Reichert (SPD) rechtfertigte die Aktion seinerzeit mit dem Hinweis darauf, dass die Plakate Angst vor Ausländern schüre. Zudem werde die Menschenwürde von Zuwanderern in Deutschland verletzt, indem sie als potentielle Mörder stigmatisiert würden.“

Formallogisch betrachtet, mag das teils in der Tat zutreffen. Aber diesem Slogan ist ganz offensichtlich eine gewissse Doppeldeutigkeit in der Aussage eigen. Und dieser Subtext trägt eine menschenverachtende rechtsextreme Botschaft in die Gesellschaft hinein. Wie kann man also derart naiv argumentieren und damit das Geschäft von Rechtsextremen, die sich darob wohl genüßlich ins Fäustchen lachen und sich artig bedanken, betreiben, als ob es keine Normen hinter dem Recht gebe? Und wieso existiert denn überhaupt ein Paragraph gegen Volksverhetzung, wenn die Hürden hierfür derart hoch sind?

Des Rätsels Lösung: Der betreffende Richter am Verwaltungsgericht Gießen ist diesbezüglich offenbar kein Unbekannter und also leider keineswegs naiv zu nennen (PS, 02.12.2019).

PPS, 05.12.2019, nicht nur der Vollständigkeit halber: Der betreffende Richter teilt sich der dpa mit und plädiert auf Fehlinterpretation. Dabei bemerkt er aber bemerkenswert selbstkritisch:

„Als Richter muss man sich aber auch Kritik gefallen lassen und auch als Anlass nehmen, eigene Verhaltensweisen zu bedenken und gegebenenfalls künftig anders und unmissverständlicher zu formulieren.“

Welch Demokratie-Verständnis

Laut einer aktuellen EMNID-Umfrage im Auftrag der BamS stehen über ein Drittel (36%) bzw. ein Viertel (26%) der Erosion, dem Absterben der einstigen Volksparteien SPD und CDU positiv gegenüber, halten sie offenbar für verzichtbar. Und die Hälfte vermag in dieser Entwicklung gar einen Gewinn für die Demokratie zu erkennen. Worin dieser denn konkret bestehen mag, darüber schweigt sich der Artikel einer überregionalen Tageszeitung allerdings aus. Also spekulieren wir einmal.

Ganz grundsätzlich hat man wohl bei der hohen Zustimmungsrate für die weiter drohende Marginalisierung von Schwarz-Rot auch einen verspäteten Strafzettel für die damaligen und auch aktuellen Groß-Koalitionäre und ihre Politik der offenen Türe angesichts der Massenflucht nach Zentral- und Nordeuropa im Jahr 2015 in Rechnung zu stellen. Und in der dauerhaften Begrenzung der ehedem erfolgreichen beiden Volksparteien mit teils großer Historie auf bundesweit unter 30 bzw. gar 20 % ließe sich allenfalls dann ein Vorteil für die Demokratie erblicken, wenn bis dato kleinere Parteien dementsprechend ihre Attraktivität steigern können oder es neuen Parteien gelingt, in die Parlamente einzuziehen. Mit der zunehmenden Individualisierung und Ausdifferenzierung parallel gehend, würden demnach also mehr Meinungen im öffentlichen politischen Diskurs repräsentiert und dieser damit erweitert. Oder aus einer anderen Perspektive betrachtet, könnte der Stimmbürger folglich unter mehreren erfolgversprechenden (in dem Sinne, daß „seine“ Partei den Einzug in die Volksvertretung schafft) Möglichkeiten wählen.

Soweit der theoretische Idealfall. Die Realität dürfte aber vermutlich ganz anders aussehen. Denn mit hoher Wahrscheinlichkeit hätten wir es mittelfristig statt mit ein, zwei hoch-integrativen Volksparteien, die gerade darum das „Volk“ in ihrer Bezeichnung tragen, weil sie in der Lage sind, verschiedene Schichten und Milieus und also Meinungen, Überzeugungen und Interessen zusammenzubinden und auszugleichen, in solchem Falle eher mit vier, fünf, sechs oder noch mehr sogenannten One-Topic-Parteien zu tun. (Falls sich nicht noch die Grünen auf der einen und die AfD auf der anderen Seite auf Dauer zu den Erben von SPD resp. CDU aufschwingen). Verhältnismäßig kleine Einheiten, die sich allenfalls zwei, drei Herzensangelegenheiten, Partikularinteressen einer spezifischen Klientel, auf ihr Panier schreiben. Um eine ähnlich hohe Kohäsion und Integration zu generieren, neigen solche Parteien denn auch eher zu Maximalforderungen und sind häufig also weniger zu Kompromissen in der Lage. Damit einher gingen u. U. auch Nebenwirkungen wie Verpöbelung und Popularisierung. Die unweigerlich daraus folgende Konsequenz wäre also gerade nicht eine wie auch immer geartete Chance für die Demokratie, sondern ganz im Gegenteil deren Lähmung und Stillstand, weil Regierungsbildungen ohne klare Mehrheiten mangels großer Parteien samt einem Juniorpartner immer langwieriger und komplizierter würden. Wären jene Koalitionen dann nach Monaten endlich im Amt, litten sie aber mutmaßlich von Beginn an unter Instabilität, weil stets mit Querschüssen aus den eigenen Reihen zu rechnen wäre. Als Fazit ließe sich somit ziehen, daß sich eine Hälfte der Deutschen leider Gottes eher auf einen Weg vorwärts in die Vergangenheit zu begeben scheint  …

Abschließend ließe sich noch fragen, wieso eine derartig delikate Frage ausgerechnet eine Woche vor einer bedeutsamen Landtagswahl lanciert wird. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.