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Des Lebens Spuren

„(…) Gleichzeitig schlug Frau Mees mit dem Löffel an die Kaffeetasse und befahl uns, unseren Geldbeitrag zum Kaffee in den Zwiebelmusterteller zu werfen, den sie gerade mit ihrer Lieblingsschülerin um die Tische herumschickte. Genauso flink und beherzt hatte sie später für die von den Nazis verpönte Bekenntniskirche gesammelt, wo sie, an solche Ämter gewöhnt, zuletzt Kassiererin geworden war. Kein ungefährliches Amt, aber sie hatte ebenso frisch und natürlich das Scherflein gesammelt.  Die Lieblingsschülerin Gerda klapperte heute lustig mit dem Sammelteller und trug ihn dann zur Wirtin. Gerda war, ohne schön zu sein, einnehmend und gewandt, mit einem stutenartigen Schädel, mit grobem, zottigem Haar, staken Zähnen und schönen braunen, ebenfalls pferdeartigen, treuen und sanft gewölbten Augen. Sie jagte gleich darauf von der Wirtin zurück – auch darin glich sie einem Pferdchen, daß sie immer im Galopp war -, um die Erlaubnis zu erbitten, sich von der Klasse zu sondern und das nächste Schiff benutzen zu dürfen. Sie hatte im Gasthaus erfahren, daß das Kind der Besitzerin schwer erkrankt war. Da zu seiner Pflege sonst niemand da war, wollte Gerda die Kranke besorgen. Fräulein Mees beschwichtigte alle Einwände von Fräulein Sichel, und Gerda galoppierte zu ihrer Krankenpflege wie zu einem Fest. Sie war zur Krankenpflege und Menschenliebe geboren, zum Beruf einer Lehrerin in einem aus dem Bestand der Welt fast verschwundenen Sinn, als sei sie auserlesen, überall Kinder zu suchen, denen sie vonnöten war, und sie entdeckte auch immer und überall Hilfsbedürftige. Wenn auch ihr Leben zuletzt unbeachtet und sinnlos endete, so war darin doch nichts / verloren, nicht die bescheidenste ihrer Hilfeleistungen. Ihr Leben selbst war leichter vertilgbar als die Spuren ihres Lebens, die im Gedächtnis von vielen sind, denen sie einmal zufällig geholfen hat. Wer aber war denn zur Stelle, ihr selbst zu helfen, als ihr eigener Mann, gegen ihr Verbot und ihre Drohung, die Hakenkreuzfahne, wie es der neue Staat befahl, zum Ersten Mai heraushängte, weil man ihm sonst die Stelle gekündigt hätte?  Niemand war da, um sie rechtzeitig zu beruhigen, als sie, vom Markt heimlaufend, die schauerlich geflaggte Wohnung erblickte, voll Scham und Verzweiflung hinaufstürzte und den Gashahn aufdrehte. Niemand stand ihr bei. Sie blieb in diesen Stunden hoffnungslos allein, wie vielen sie selbst auch beigestanden hatte.“


Anna Seghers, der Ausflug der toten Mädchen (ENT 1943/44, EV 1946), in dies.: Die Heimkehr des verlorenen Volkes. Ein Lesebuch. Hrsg. und mit einem Nachwort von Sonja Hilzinger, München 1996, S. 82-108, hier. 91f.

 

Der andere Blick …

Heuer ist es nunmehr zwei Jahre her, daß ich meine einen Tag zuvor erworbene smarte Kamera sogleich einweihen konnte. Aus diesem Anlaß sei der monatlich anstehende „andere Blick“ nun einem solchen vorbehalten, den ich bei dieser Gelegenheit in der Großstadt am berühmten langen Fluß an der östlichen Grenze meines Bundeslandes riskiert habe.

Photographie © LuxOr

Zwölf Uhr mittags

Der 23. Mai ist ein durchaus geschichtsträchtiger Tag. Da liegt es nahe, an einem solchen Datum zu einem gegebenen Zeitpunkt einmal eine Momentaufnahme der Ereignisse und Einschätzungen im unendlichen Strome der Zeit zu machen, welche im nächsten Augenblick bereits vergangen sein werden, und deren tatsächliche Bedeutung für den weiteren Lauf der Geschichte wir allenfalls erahnen können.

Im Folgenden habe ich daher alle Schlagzeilen, welche Punkt Zwölf Uhr mittags auf der Seite meiner Netzhauspostille präsentiert worden sind, hier aufgelistet. Ein bißchen überrascht war ich jedenfalls von der schieren Menge der Artikel und Nachrichten, es dauerte deutlich länger als erwartet, alle Einträge niederzuschreiben; wenn man geschwind mal herunterscrollt, fällt das einem gar nicht so sehr auf. Freilich geht mit der hohen Zahl auch eine Verbreiterung der angesprochenen Themen und Fachgebiete einher. Ein anregendes Kaleidoskop des menschlichen Lebens in seinen Leistungen, Widersprüchen und Nichtigkeiten gleichsam, ein Schaufenster zur Welt, zu Raum und Zeit, ein Spiegel der Gesellschaft. Oder Politik und Poesie des Alltags. Und mal schauen, woran ich mich in einem Jahr noch erinnern kann, was Bestand hat und was nicht …

 

  • Corona-Wiederaufbaufonds: Eine Alternative zum Merkel-Macron-Plan
  • Europa in der Corona-Krise: Solidarität bis zur Schuldenunion?
  • 500-Milliarden-Fonds: Der Hamilton-Moment
  • Gesundheitsamt bestätigt: Corona-Ausbruch nach Gottesdienst in Frankfurt
  • Folgen des BND-Urteils: Gehen Deutschland jetzt Informationen verloren?
  • Missbrauchsvorwürfe im Sport: Mutige Frauen trotzen Morddrohungen
  • Meisterkampf in Bundesliga: Die große Gefahr für den BVB
  • Branchenwandel durch Corona: Trübe Zeiten für Edelmarken
  • Digitec-Podcast: Der Umbruch hat erst begonnen
  • Ist die Einheit in Gefahr? Wie Corona das Vereinigte Königreich spaltet
  • Zahlen zum Corona-Virus: Die Pandemie im Überblick
  • Liveblog zum Corona-Virus: Los Angeles verteidigt Beschränkungen gegen Trump-Regierung
  • Niedersachsen: Quarantäne für 50 Menschen nach Corona-Ausbruch in Restaurant
  • Folgen der Corona-Krise: Unternehmer Kühne: Merkel könnte nochmal antreten
  • Rummenigge kontert DFB-Idee: „Das ist kalter Kaffee“
  • Biden entschuldigt sich: „Ich hätte nicht so ein Klugscheißer sein sollen“
  • Folge der Pandemie: Autovermieter Hertz stellt Insolvenzantrag
  • Hertha-Trainer Labbadia warnt: Laute Mahnung trotz Derby-Kantersieg
  • Blogs/Pop-Anthologie: Alles nur ein Fiebertraum
  • Comeback der AS 2020: Diese Flieger wollen ewig leben
  • Unterwegs auf den Feldern: So schlagen sich die deutschen Spargelhelfer
  • Fraktur: Krude wie Tante Trude
  • Digitalisierung verschlafen: Die Dinosaurier-Banken sind zu spät dran
  • Komplizierte Parteiausschlüsse: Im Zweifel für den Querschläger
  • Kampf gegen Corona: Impfstoff? Freut Euch nicht zu früh!
  • „Inside Tumucumaque“: VR-Reisen durch den Amazonas-Regenwald
  • Freibad-Saison in NRW eröffnet: „Die Corona-Kilos müssen wieder runter“
  • Weiße Kreise als Abstandshalter in San Francisco
  • Gefährliche Algenbildung?: Grüne Flecken in der Antarktis
  • Di Maio rührt die Werbetrommel: Die Hassliebe der Italiener zu deutschen Touristen
  • Barbara Borchardt: zu links für das Verfassungsgericht?
  • Corona-Krise: Trump dringt auf Öffnung der Kirchen
  • Setzt sich Meuthen durch? House of AfD
  • Johnson-Berater: Cummings soll Lockdown-Regeln missachtet haben
  • Virtueller CSU-Parteitag: Söder „die Stimme der Vernunft“
  • „Staatliche Gängelei“: Altmeier gegen Recht auf Homeoffice
  • Streit ums Geld: Konjunkturpaket soll kommen – aber wie?
  • FAZ Exklusiv: Die Rentenreserve schmilzt wegen Corona
  • Unternehmen nach 2. Weltkrieg: Neustart auf dem Trümmerfeld
  • Online-Kommunikation: Whatsapp hängt alle ab
  • Hate-Speech auf Twitter: Die Verrohung nimmt kein Ende
  • Folgen der Corona-Krise: Facebook rechnet künftig mit 50 Prozent Homeoffice
  • Vermögenspreise(?): Ein Inflationsschub ist unwahrscheinlich
  • Bitkom-Umfrage: Bargeld nicht mehr gefragt
  • Nachfrage kollabiert: Indiens Notenbank wagt keine Wirtschaftsprognose
  • Spezialkredite der Notenbank: Japanischer Schulterschluss gegen Corona-Krise
  • Max-Klinger-Ausstellung: Lust und List des Monumentalen
  • Frankfurter Bühnen: Ein Donnerschlag gegen das Stadtparlament
  • Streamingdienste im Vormarsch: Wer soll das alles bezahlen?
  • Britische Unis schlagen Alarm: Lebenslang online
  • FAZ Podcast für Deutschland: „Weit weg von Leistungssport“ – Läuferstar Pamela Dutkiewicz über Quarantäne-Training
  • FAZ Einspruch Podcast: Die Grenzen der BND-Massenüberwachung
  • FAZ Podcast für Deutschland: „Dann kauf Dir doch ne Insel“ – Immobilienpreise in Corona-Zeiten
  • Sozial engagierte Studenten: Creditpoints für die gute Tat
  • Kleines Arbeitszimmer: Die Homeoffice-Nöte des SAP-Chefs
  • Europäischer Gerichtshof: Ein Integrationsmoter unter Legitimationsdruck
  • Engagement neben dem Beruf: Eine Frage der Ehre
  • Comic: Alarmstufe Grün ist viel verstörender als Rot
  • FAZit – Das Wirtschaftsblog: So klappt es mit dem Bestseller
  • Fußballstar Khedira schwärmt: „Er war der beeindruckendste Trainer“
  • Christopher Froome kämpft: Ein Radstar in der „Quälhölle“
  • Jockey Andrasch Starke: Der mit der Kraft in den Händen
  • Der Barfuss-Drummer: City-Schlagzeuger Klaus Selmke gestorben
  • Pakistan: 97 Tote bei Flugzeugabsturz in Karachi
  • Haftbefehl wegen Mordes: Erzieherin soll Kita-Kind getötet haben
  • Homeschooling: Mathestunde am Laptop
  • Mode während Corona: Mit Mundschutz von Gucci
  • Mode-Ikone Michelle Elie: „Ich passe in keine Kategorien“
  • Schauspielerin Janelle Monáe: „Ich würde auch gerne Fehler machen dürfen“
  • Smalltalk – Neues von den Promis: Rooney Mara erwartet erstes Kind
  • Initiative gegen Extremismus: „Fausthiebe nehme ich sportlich“
  • Frankfurt: Hauptstadt der Verschwörung
  • Autobahn 7 komplett gesperrt: Lastwagen verliert nach Notbremse Ladung mit Tierabfällen
  • Städtische Bühnen: Am Wolkenfoyer soll es nicht scheitern
  • Ladestationen zu vermieten: Energie auf Rädern
  • Fünf am Freitag: Heiße Eisen, harte Fasern und coole Klänge
  • BMW Active Hybrid E-Bike: Nur kein Neid bei großen Namen
  • Elektroautos auf der Fähre: Stromschlag auf See?
  • Arzneien in der Corona-Krise: Wirkt dieses Medikament jetzt noch?
  • Verbreitung durch Aerosole: Etwas Virus liegt in der Luft
  • Verfettetes Organ: Wenn die Leber am Limit ist
  • Rüdesheimer Drosselgasse: Das jähe Ende von Wein, Weib und Gesang
  • Wie erklär ich’s meinem Kind? Was eine Sucht ist
  • Einmalzahlung pro Kind: Kommt der Corona-Familienbonus?
  • Corona-Krise: Männer, Frauen, Traditionen
  • Spaniens Kunstmarkt: Nur eine Million Euro
  • ZADIK: Kunstmarkt und Lehre
  • Rundgang durch die Galerien: Exodus aus Berlin?
  • Trendobjekt Gartenhaus: Welche Hütte passt zu mir?
  • Studie des Immobilienverbands: Mieten und Hauspreise steigen trotz Corona weiter
  • Schotterwüste im Vorgarten: „Das sind die gartengewordenen SUVs“
  • Arles in der Provence: Wie viel Paris darf es sein?
  • Popakademie Mannheim: City of Music
  • Deutschland spricht: Angst, Unruhe, Wut – und Demut
  • Blick von oben auf die Welt: So schön, so bunt, so nah!

 

Steinerne Zeugen

Ja, die letzten Zeitzeugen auf beiden Seiten – Angreifer oder Verteidiger, Täter oder Opfer – sterben alsbald hinweg. Und damit vermag bald niemand mehr Zeugnis zu geben von Diktatur, Krieg, Zusammenbruch und Holocaust. Aktive Erinnerung an Geschichte, aus erster Hand quasi, verschwindet von selbst. Eine Herausforderung an die Zivil-Gesellschaft wie die Politik, wie man die Erinnerungskultur künftig verantwortlich zu gestalten hat, jenseits wohlfeiler Betroffenheitsrituale in luftigen Sonntagsreden, auf daß auch der Alltag davon durchdrungen sein möge.

Auf einem ganz anderen Gebiet pflegt man hingegen einen bisweilen wenig zimperlichen Umgang mit Zeugenschaft. Die Rede ist vom Städtebau resp. Denkmalschutz, oder genauer: die Frage nach der Rekonstruktion zerstörter, historischer Bausubstanz – steinerne Zeugen gleichsam der Wirrnisse der Zeiten. Ganze Städte sind nach ihrer zunehmenden Zerstörung im Bombenkrieg ab etwa 1942 bekanntlich bis zur ihrer Unkenntlichkeit wiederaufgebaut worden, man denke dabei bspw. an Heilbronn oder Pforzheim. (In meiner eigenen Geburtsstadt Freiburg verschwanden die letzten Trümmergrundstücke, bis dato als Parkplätze genutzt, im Übrigen erst bis Mitte/Ende der 1980er Jahre.) Manche Ruinen freilich, singuläre Gebäude von hohem symbolischen Wert, häufig auch Gotteshäuser, Mahnmale des Schicksals ihrer Stadt, blieben dagegen lange unbehelligt. So zum Beispiel die Frauenkirche in Dresden. Deren historisierende Rekonstruktion (1994-2005) erfüllte den Schreiber dieser Zeilen bisweilen mit Bauchgrimmen.

Die Frauenkirche zu Dresden

Natürlich wäre es eine konsvervatorische Herausforderung geworden, eine Ruine dauerhaft (begehbar?) zu erhalten und hierbei insbesondere die Sicherheit für Besucher und Passanten zu gewährleisten. Gleichwohl begab man sich damit der einmaligen Gelegenheit, ein Fragezeichen, einen mahnenden Zeigefinger, ein originales Denk-mal! für die Nachwelt zu bewahren, einen Gedenk-Ort zu schaffen um einen Torso, dem im Februar 1945 eben jenes Schicksal widerfuhr, wogegen sich die Mahnung richtet. Stattdessen tilgte man die Zerstörung, damit aber auch die mahnende Erinnerung daran, ein für alle Mal aus dem Stadtbild, so als ob nie etwas geschehen wäre. Und das bloß um der Vereinheitlichung und Harmonisierung, der Überzuckerung des Stadtbildes willen. Die feierliche Weihe fand dann im Oktober 2005 statt.

Das ist nun mittlerweile auch wieder dreizehn Jahre her. Doch auch andernorts in unserer Berliner Republik bricht sich derzeit im Umgang mit historischer Bausubstanz eine bedenkliche, weil homogenisierend-verklärende Geschichtsvergessenheit Bahn. Dem Dresdner Wiederaufbau kann man ja immerhin zugutehalten, daß hier auf noch existente originale Reste aufgebaut worden ist. Vor allem aber ist das historische Ensemble wenig vorbelastet durch die reichsdeutsche Vergangenheit. Davon kann andernorts nun allerdings keineswegs die Rede sein. Ganz im Gegenteil, hie und da scheint eher der preußisch-deutsche Militärgeist fröhlich Urständ zu feiern. Der Bund und das notorisch klamme und in Planungsfragen übel beleumundete Land Berlin (Stichwort „BER“) leisten sich für über eine halbe Milliarde Euro den Wiederaufbau des barock-klassizistischen (Stadt-)Schlosses der Hohenzollern. Just an der Stelle also, wo von 1976-2006 das Vorzeige-Objekt der Ost-Berliner Genossen, der Palast der Republik, auf dem weitläufigen Gelände des Originalbaues stand.

Der künftige Schloßplatz zu Berlin – © Sandy Lunitz

Und nur wenige Kilometer in südwestlicher Richtung entfernt, wird gerade das Zentrum Potsdams dem Erdboden gleichgemacht. Funktionsbauten aus den 1960/70er Jahren  im Stile des zeitgenössischen Brutalismus (u. a. ein Rechenzentrum oder Gebäude der hiesigen FH) müssen n. a. dem Wiederaufbau der Garnisonskirche weichen, zunächst offenbar nur des Glockenturms; dem aber das Kirchenschiff wohl unweigerlich folgen wird. So als ob im Westen niemals ähnlich unterkühlte und deshalb gerade realistische, zeit-adäquate und also eigentlich erhaltenswerte Gebäudekomplexe errichtet worden wären. Hat denn das architektonische Erbe der DDR absolut keine Daseinsberechtigung, sind denn die materiellen Hinterlassenschaften des anderen deutschen Staates jenseits von SED-Diktatur und Stasi-Verfolgung automatisch weniger wert? Ein nachgeholter Abrechnungsfuror gleichsam gegen die vermeintlich steingewordene Ideologie des im Wettstreit der Gesellschaftssysteme unterlegenen Gegners von einst. Bei oberflächlicher Betrachtung wird hier also durch Steuergelder ein weiterer barockisierender Prachtbau errichtet, in dessen Glanz und Gloria sich die neureichen Promi-Neubürger der ehemaligen Residenzstadt zu sonnen und lustwandeln gedenken. Doch angesichts der Vergangenheit dieses Kirchenbaus als DAS Symbol der unseligen Symbiose aus etatistischem deutschen Protestantismus und preußisch-deutschem, nationalen Machtstaat, kulminierend im Tag von Potsdam (21.03.1933), scheint die Frage mehr als berechtigt, welcher Geist hier tatsächlich am Wirken ist.

Modell des Turmes der (neuen) Garnisonskirche zu Potsdam

Man kann solcherlei Bau-Projekte vorwärts in die Vergangenheit noch so wohlmeinend erinnerungspolitisch und geschichtsdidaktisch begleiten; allein daß sie heutzutage gedacht, geplant, schließlich dann (in Teilen zumindest) mehrheitsfähig und also errichtet werden können, sagt doch einiges über die Befindlichkeiten unserer Gesellschaft, unserer politischen Kultur aus. Einerseits weitverbreitete Schlußstrich-Mentalität, andererseits Sehnsucht nach ornamentaler (oder gar imperialer?) Größe und oberflächlichem Glanz, nach kitschiger Kulisse und barocker Betäubung. Revisionismus und Populismus scheinen mithin im Zentrum unserer Städte, in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen zu sein. Und die AfD ist nur e i n Symptom hiervon.

Wie ich vorigen Monat mit einem alten Freund durch Hamburg streifte, fragten wir uns immer wieder, was denn das für ein Turm sei, der alles andere überragend aus der Silhouette der Stadt hervorsticht, dabei aber seltsam düster und trostlos wirkt. Es handelt sich um den Turm der ehemaligen, neogotischen Hauptkirche der alten Hansestadt, St. Nikolai, – mit 147 m einstmals das höchste Gebäude der Welt. Dieser trotzte dem Feuersturm der Flächenbombardements auf Hamburg im Juli/August 1943.

Der Turm-Torso der ehemaligen Hauptkirche St.-Nikolai inmitten einer scheinbar gerade erst geräumten Trümmerlandschaft – © LuxOr, 07.18

Politik und Kirche fällten dann die für die quietistischen, fortschrittsgläubigen und wirtschaftswunderbeseelten 1950/60er Jahre bemerkenswert weitsichtige Entscheidung, den Turm-Torso als Mahnmal der Nachwelt zu erhalten. Auch wenn er dann im Anschluß erst einmal – jahrzehntelang vernachlässigt – zusehends verfiel. Bis  Ende der 1980er Jahre auf private Initiative hin durch Spenden wieder Bewegung in die Angelegenheit kam. Der Turm konnte gesichert (und bis Anfang diesen Jahres erneut aufwändig saniert) werden, und auf halber Höhe wurde eine Aussichtsplattform samt Außenlift installiert. Verschiedene Exponate – ein Mosaik und Skulpturen – laden künstlerisch zur Reflexion und Kontemplation ein. In der Krypta schließlich wurde ein Informationszentrum samt Dauerausstellung zum Bombenkrieg auf Hamburg eingerichtet. Historische Bauten – Ruinen zumal, auch vermeintlich häßlich-ungestaltes – sprechen zu uns in ihrer ganz eigenen Sprache. Man muß nur den Willen aufbringen, zu hören …

Die Vorher-Nachher-Show oder Faschisierung des öffentlichen Raumes

Meine Geburtsstadt, vorher:

Vorher – der „alte“ Platz der alten Synagoge

 

Ein Platz im Rechteck, nach Süden und Osten hin durch Kollegiengebäude der hiesigen alma mater begrenzt, in den anderen Richtungen durch Gehweg und Straße. Eine ausgedehnte durchgehende Grünfläche, auf zwei Seiten eingefaßt von einer niedrigen Mauer, welche als Sitzgelegenheit dient. Am nördlichen Ende ein Obelisk zum Gedenken an einen Sohn der Stadt, Karl von Rotteck (1775-1840), liberaler Politiker, Staatswissenschaftler und Historiker (Dieser vertrat eine aus heutiger Sicht problematische Position bezüglich der Judenemanzipation; für damalige Verhältnisse war eine solche Haltung indes durchaus nicht unüblich). Einige Meter davor ein gelbes Hinweisschild nach Art der Straßenverkehrszeichen, Richtung und Entfernung nach Gurs / Frankreich angebend; ein Ort in den Pyrenäen, wohin im Oktober 1940 die badischen, pfälzischen und saarländischen Juden von den Nationalsozialisten nach der Niederlage Frankreichs im Juni jenen Jahres deportiert wurden.

Vorher – Rottteck, KG II & das Gurs-Schild

 

Am südlichen Ende schließlich eine Gedenkplatte in Erinnerung an den vormaligen Standort der von den lokalen NS-Größen in der Reichspogromnacht (09.11.1938) zerstörten Freiburger Synagoge.

Von Landesarchiv Baden-Württemberg, CC BY 3.0 de

Vorher – die alte Synagoge (1926) / Von Landesarchiv Baden-Württemberg, CC BY 3.0 de

 

Vorher – die Gedenkplatte zur alten Synagoge

 

Vorher – die Gedenkplatte / Von © Jörgens.mi /, CC BY-SA 3.0

 

Der Name: Platz der alten Synagoge. Ein Ort der Erinnerung und Mahnung mithin, vernachlässigt gewiß und ziemlich verschlafen, aber beschaulich auch, im besten Sinne also lang-weilig; eine Stätte des Innehaltens zwischen Großstadt-Treiben, Verkehr und kühlem akademischen Betrieb. Ein Platz, der eine behutsame Rekonstruktion und Modernisierung dufchaus verdiente, aus Respekt vor der Geschichte, vor den (jüdischen) Opfern des Nationalsozialismus.

 

Nachher, im August 2017:

Nacher — der „neue alte“ Platz bei der Übergabe (02.08.2017)

 

Besagter Platz wurde nun im Zuge des Stadtbahnausbaus und der Aussperrung des Durchgangsverkehrs tatsächlich umgestaltet und Anfang diesen Monats der Öffentlichkeit übergeben. Und man kann sagen, es wurde ganze Arbeit geleistet. Das Grün ist größtenteils verschwunden; zwei, drei dürre Bäumchen auf den Stirnseiten vermögen ihre Alibi-Funktion kaum zu kaschieren, zumal sie vom Boden an über den ersten Meter jeweils eingekastelt sind durch ein Sitzpodest aus Holz. Der Platz ist nun von allen Seiten aus zwar problemlos begehbar, gleicht mit seinen beigen Steinplatten indes einer wüsten Ödnis. Der Rotteck ist offenbar zur persona non grata erklärt, der Mahn-Weiser nach Südfrankreich gleichfalls mittlerweile unerwünscht. Zum Theater hin gen Westen spritzen stattdessen mehrere Wasserspiele auf zur Erquickung von Hund, Kind und Kegel. Gen Südwesten zu nun das Herzstück der Neuanlage, ein permanent überlaufendes Wasser-Bassin, das in seinen Maßen dem Grundriß der alten Synagoge nachempfunden ist. Darinnen, kaum zu erkennen, die alte Gedenkplatte, ertränkt – um sie herum sabbernde Hunde, planschende Kinder und diese knipsende entzückte Erwachsene. Im Übrigen keinerlei erhellende Angaben, was es mit diesem Orte, seiner Bedeutung und seiner Geschichte eigentlich auf sich hat, nirgends.

Von Markus Wolter - Eigenes Werk, CC-BY-SA 4.0

Nachher – der „Gedenkbrunnen“ bei der Übergabe, im Hintergrund die neue UB / Von Markus Wolter – Eigenes Werk, CC-BY-SA 4.0

 

Nichts anderes als ein hitze-strahlender neuer Aufmarschplatz, der nicht atmet, der ohne Leben, ohne Farbe ist, ohne Identität, der keinen echten Widerhaken bietet für das Auge. Stattdessen vor Öde und Leere nur so trieft, vor Kälte, vor Härte. Kongenial bildet er daher nun eine Einheit mit dem im wahrsten Sinne des Wortes blendenden Monolithen der neuen hiesigen Universitätsbibliothek (UB) – in Stein, Glas und Beton gehauener Nihilismus, Faschisierung des öffentlichen Raumes in der Vertikalen wie der Horizontalen. (Stein)platt(e) gemachte Geschichte, Verwässerung des Geschehens, Verplanschung des Gedenkens (resp. Vereisung, denn eine besonders intelligente Zeitgenossin entblödete sich nicht vorzuschlagen, das Wasser-Bassin winters in eine Eisbahn umzuwandeln …).

Gegen begehbare, erfahrbare Mahnmale ist ja zunächst überhaupt nichts einzuwenden. So ist das Stelenfeld in Berlin, das nationale Hoocaust-Mahnmal, mit der Zeit auch zu einem Besuchermagneten geworden. Und es wird immer Menschen geben, die aus Unwissenheit oder Indifferenz (oder etwa Beklemmung?) sich für Dritte irritierend verhalten. Jenem Monument in seiner langsam ansteigenden Monströsität – als solche wiederum auch anfechtbar – ist freilich eine ernsthafte Intention, welche zum Ge-Denken herausfordert, durchaus abzulesen. Derweil das Freiburger Planschbecken vielleicht gut gemeint war, in seiner schlußendlichen Ausführung jedoch sein Heil allein in der oberflächlichen Zerstreuung sucht und also auf ganzer Linie scheitert. Die Stadt ist dabei Wiederholungstäter, man denke bloß an die unselige, da dermaßen inkonsequente Änderung von Straßennamen: Avanti, Dilletanti!

Und Stadtväter wie Rat, allesamt allzu laissez-faire-grün-bewegt, geben sich auf einmal ach so überrascht, daß ihre notorisch feiersüchtige und spaßwütige Bevölkerung das Gelände okkupiert, die Stadtreinigung tagsüber daher Extra-Touren über den Platz fegen und frühmorgens erst einmal die delikate Hinterlassenschaft der nächtlichen Gelage entsorgen darf. Doch Party-People sind heutzutage ja auch künstlerisch veranlagt und verewigen sich in hochprozentiger Laune gerne gekritzelt auf den Steinplatten. Weshalb sich die Stadtverwaltung nun genötigt sieht, hierfür eine spezielle Reinigungsmaschine über mehrere Hunderttausend Euro anzuschaffen. Ganz zu schweigen von der peinlichen Posse um die Namensgebung (warum nicht einfach den alten Namen beibehalten?) und die unsensible Terminierung der späteren öffentlichen Einweihung unter quasi-Ausschluß der jüdischen Gemeinde. Allüberall mithin (bewußte?) Geschichtsvergessenheit, oben wie unten, hier wie dort (Berlin läßt momentan bekanntlich das Stadtschloß wiederauferstehen, in Potsdam droht derweil neuerdings der Wiederaufbau der Garnisonskirche). Da beschleicht einen bisweilen unwillkürlich der Verdacht, daß wir eben doch deutschlandalternativer gestimmt sind, als weite Teile von uns sich gemeinhin eingestehen wollen. Denk ich also an Deutschland in der Nacht …