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Selbstoffenbarung

Kürzlich nächtens lange noch im letzten Buch meiner derzeitigen Lieblingsautorin geschmökert. Dabei an einem Satz hängengeblieben, den die Erzählerin jemandem in den Mund legt. „Man ist nicht auf der Welt, um sich zu bessern, aber um sich zu öffnen.“ Tatsächlich?, frage ich mich. Gut, aus dem ganzen Kontext schließe ich, daß es hier nicht um die allseits hoch im Kurs stehende Selbstoptimierung beinahe um jeden Preis, sei es nun im Beruf, bei der Körperstählung, bei der Ernährung, im Sport oder wo auch immer zu tun ist. Das erzeugt letzten Endes nur Verbissenheit und ist daher auch schwer in Einklang zu bringen mit den Befindlichkeiten anderer. Aber ist auch keine Besserung anzustreben, wenn es sich, sagen wir mal, um gewisse Marotten oder Ticks handelt, welche unsere Zeitgenossen mitunter auf eine harte Geduldsprobe stellen? Ich bin etwas irritiert, das ähnelt doch allzu sehr einer radikal individualistischen Sichtweise nach dem Motto: „Ich bin gut so, wie ich bin, sollen doch die anderen schauen, wie sie mit mir auskommen.“

Aber vielleicht ist des Pudels Kern, der vermeintlichen Verwirrung Lösung ja im letzten Glied der Aussage zu suchen. Was bedeutet denn eigentlich sich öffnen? Und wer ist überhaupt der Adressat dieser Eröffnung? Ich öffne mich also meinen Mitmenschen, wenn ich meine Ängste, Nöte, Wünsche und Freuden mit ihnen teile. Sich mit-zuteilen ist ein menschliches Grundbedürfnis, das zu einem Gutteil zu unserem „seelischen“ Gleichgewicht beiträgt. Daß ich dabei nicht in einen Monolog verfalle, versteht sich von selbst, eine Einbahnstraße, eine Art Selbstgespräch vor Claqueuren kann nicht das Ziel sein. Nein, ein Dialog, ein Zwiegespräch ist gemeint. Ich mache mich gleichzeitig also empfänglich für die Empfindungen meiner Mitmenschen. Gut zuhören und auf Nuancen und Schwingungen achten zu können, sind hilfreiche Voraussetzungen hierfür. Unabdingbar, sich öffnen zu können, scheint mir letztlich aber eine andere Qualität zu sein. Denn um mich auf mein Gegenüber richtig einstellen zu können, bedarf es zuvörderst der Selbst-Prüfung. Bin ich denn mir selbst gegenüber überhaupt offen, bin ich ehrlich mit mir, gebe ich mir Rechenschaft über mein eigenes Verhalten, über mein Tun und Lassen meiner Umwelt, aber auch mir selbst gegenüber? Erst wenn ich dazu bereit bin, mich selbst radikal zu hinterfragen, mich meinen eigenen „Dämonen“ zu stellen und aus dieser kontinuierlichen Selbst-Sezierung heraus immer wieder aufs Neue gewillt bin, bisweilen auch schmerzhafte Konsequenzen zu ziehen, mich selbst nicht als Nabel der Welt zu sehen oder mich zu wichtig zu nehmen, mich mir also selbst zu öffnen, bin ich auch in der Lage, anderen unvoreingenommen zu begegnen, andere Perspektiven anzuerkennen, Verständnis oder Nachsicht zu zeigen und Mitgefühl zu entwickeln. Rückhaltlose Selbst-Offenbarung, das ist kein einfacher Weg, fürwahr, vielfach leichter gesagt, als getan, sicherlich auch häufig von Rückschlägen begleitet – doch gibt es einen bessern?

 

Photographie © @ufdieBlende / LuxOr