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Dies ist die glücklichste Zeit …

Den standhaften Menschen in Belarus und anderswo

„Dies ist die glücklichste Zeit“

dies ist die glücklichste zeit
meines lebens
sagt er
es ist wie ein leben nach dem tod
wie leben an sich statt
tod
es lässt sich unmöglich erklären
und wozu auch
unmöglich es vorherzusehen
unmöglich es nicht zu sehen
augenblicklich
du gehst zwischen toten häusern
und plötzlich: die auferstehung der toten
überall auferstehung der toten
überall kommen menschen aus den toten häusern
sie steigen heraus aus den gräbern heraus auf die
straßen
ziehen staunende menschenmengen
lebende in hellen scharen
sie lachen und weinen und singen und tanzen
wie unsterbliche
wie an abgestorbenen sträuchern die knospen sich
öffnen
wie der raum badet in einer wolke
aus roten und weißen blüten
wie bienen summen berauscht
im schweren trunkenen blütenstaub
wie sie einander lieben
wie noch niemand je
in meinem leben
sagt er

Dmitrij Strozew

Des Lebens Spuren

„(…) Gleichzeitig schlug Frau Mees mit dem Löffel an die Kaffeetasse und befahl uns, unseren Geldbeitrag zum Kaffee in den Zwiebelmusterteller zu werfen, den sie gerade mit ihrer Lieblingsschülerin um die Tische herumschickte. Genauso flink und beherzt hatte sie später für die von den Nazis verpönte Bekenntniskirche gesammelt, wo sie, an solche Ämter gewöhnt, zuletzt Kassiererin geworden war. Kein ungefährliches Amt, aber sie hatte ebenso frisch und natürlich das Scherflein gesammelt.  Die Lieblingsschülerin Gerda klapperte heute lustig mit dem Sammelteller und trug ihn dann zur Wirtin. Gerda war, ohne schön zu sein, einnehmend und gewandt, mit einem stutenartigen Schädel, mit grobem, zottigem Haar, staken Zähnen und schönen braunen, ebenfalls pferdeartigen, treuen und sanft gewölbten Augen. Sie jagte gleich darauf von der Wirtin zurück – auch darin glich sie einem Pferdchen, daß sie immer im Galopp war -, um die Erlaubnis zu erbitten, sich von der Klasse zu sondern und das nächste Schiff benutzen zu dürfen. Sie hatte im Gasthaus erfahren, daß das Kind der Besitzerin schwer erkrankt war. Da zu seiner Pflege sonst niemand da war, wollte Gerda die Kranke besorgen. Fräulein Mees beschwichtigte alle Einwände von Fräulein Sichel, und Gerda galoppierte zu ihrer Krankenpflege wie zu einem Fest. Sie war zur Krankenpflege und Menschenliebe geboren, zum Beruf einer Lehrerin in einem aus dem Bestand der Welt fast verschwundenen Sinn, als sei sie auserlesen, überall Kinder zu suchen, denen sie vonnöten war, und sie entdeckte auch immer und überall Hilfsbedürftige. Wenn auch ihr Leben zuletzt unbeachtet und sinnlos endete, so war darin doch nichts / verloren, nicht die bescheidenste ihrer Hilfeleistungen. Ihr Leben selbst war leichter vertilgbar als die Spuren ihres Lebens, die im Gedächtnis von vielen sind, denen sie einmal zufällig geholfen hat. Wer aber war denn zur Stelle, ihr selbst zu helfen, als ihr eigener Mann, gegen ihr Verbot und ihre Drohung, die Hakenkreuzfahne, wie es der neue Staat befahl, zum Ersten Mai heraushängte, weil man ihm sonst die Stelle gekündigt hätte?  Niemand war da, um sie rechtzeitig zu beruhigen, als sie, vom Markt heimlaufend, die schauerlich geflaggte Wohnung erblickte, voll Scham und Verzweiflung hinaufstürzte und den Gashahn aufdrehte. Niemand stand ihr bei. Sie blieb in diesen Stunden hoffnungslos allein, wie vielen sie selbst auch beigestanden hatte.“


Anna Seghers, der Ausflug der toten Mädchen (ENT 1943/44, EV 1946), in dies.: Die Heimkehr des verlorenen Volkes. Ein Lesebuch. Hrsg. und mit einem Nachwort von Sonja Hilzinger, München 1996, S. 82-108, hier. 91f.

 

Mein Unwort des Jahres …

W I D E R S T A N D

Ja, in Hongkong oder Weißrußland und allüberall, wo Frauen und Männer, Kinder und Alte trotz Gefahr für Leib und Leben, zumindest aber für ihre soziale Existenz für legitime Forderungen unerschrocken und unverdrossen auf die Straße gehen, ist der Begriff durchaus berechtigt. Hierzulande wird Widerstand freilich viel zu lange schon überstrapaziert und mißbraucht von einer heterogenen Gruppe (schwäbischer) Besserwisser, die mit peinlich schiefen historischen Analogien und hanebüchenen Verschwörungserzählungen von Diktatur faseln, ohne dabei auch nur die leisesten Konsequenzen fürchten zu müssen.

Narziß und WordPress oder sapere aude!

 

Zwischen Schön-Wetter-Beliebigkeit und Selbstarstellung.

Zwischen Kunsthandwerk und Schulaufsatzmonotonie.

 

Gleichgültigkeit gegenüber der Wirklichkeit,

Ignoranz gegenüber dem Weltgeschehen.

 

Alles gleichwohl bierernst und

ohne einen Hauch von Selbstironie präsentiert.

 

Dort, wo einzig ästhetisierende Gefolgschaft erwünscht ist,

ist ein kritischer Austausch unmöglich gemacht;

wo man sich selbstzufrieden in der Eitelkeit der steigenden Like-Klicks und Folgsamen sonnt,

kann es mithin niemals zu Weiter-Entwicklung kommen.

 

Leichtfertiges Sich-aus-der-Verantwortung-Stehlen,

Freiwillige Preisgabe der Ideen der Aufklärung.

 

Ohne einen Anspruch an sich selbst?

Gediegene Langeweile.

 

Dann ist es auch egal,

unter welchem gesellschaftlichen System man lebt,

sei es nun eine Demokratie oder eine Diktatur:

Man ist in jedem Fall system-konform.

 

Aber eben auch der Mann ohne Eigenschaften.

 

Wessen Ausgrenzung?

Allenthalben hört oder liest man, die Wähler der AfD dürften nicht verunglimpft oder ausgegrenzt werden, zumal man einen Wähleranteil von bis zu einem Viertel der abgegebenen gültigen Stimmen aus demokratischer Sicht nicht so ohne Weiteres ignorieren könne oder dürfe. Die Parteien der alten Bonner Republik, insbesondere natürlich die CDU/CSU, versuchen denn auch, diese Wähler zurück in den Schoß der demokratischen Parteien-Familie zu führen, jedoch nicht allein aus altruistischen Motiven staatspolitischer Verantwortung. Häufig wird in diesem Zusammenhang behauptet, viele Menschen wählten die AfD nicht wegen, sondern trotz ihrer antidemokratischen oder völkisch-rassistischen Ausfälle. Dahinter mag wohl die Vermutung oder die Hoffnung stehen, daß das Gros dieser Wählerschaft nur vorübergehend bei der Alternative ihr Kreuzchen setzt – deren Anliegen und Programmatik (beispielsweise Infrastruktur und Grundversorgung in den östlichen Bundesländern) im Kern auch anzuerkennen sei (was freilich verkennt, daß diese Politikfelder auch bloß darum so intensiv alternativ bedient werden, um das angebliche Versagen des demokratischen Systems bundesrepublikanischer Prägung anzuprangern und damit also generell publikumswirksam verächtlich zu machen) -, ihre demokratische Seriosität ansonsten aber über jeden Zweifel erhaben sei.  Eine aktuelle Studie des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig, basierend auf einer repräsentativen Umfrage unter 2416 Wahlberechtigten von Mai bis Juli 2018, scheint indes gerade das Gegenteil nahezulegen. Anhand des „Leipziger Fragebogen zur rechtsextremen Einstellung  (FR-LF)“ sollten sich die Probanden zu den folgenden Dimensionen (zu je drei Aussagen) positionieren:

  • Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur,
  • Chauvinismus,
  • Ausländerfeindlichkeit,
  • Sozialdarwinismus,
  • Antisemitismus sowie
  • Verharmlosung des Nationalsozialismus.

Die jeweilig Gewichtung der einzelnen Items durch Sympathisanten der AfD lassen demnach den Schluß zu, daß

„AfD-Wähler_innen über alle Dimensionen hinweg signifikant höhere Zustimmungswerte in Bezug auf die Dimensionen des Rechtsextremismus zeigten, als die Wähler_innen der anderen Parteien, Nichtwähler_innen und Unentschlossene. Neben der sehr hohen Zustimmung zu Chauvinismus und Ausländerfeindlichkeit unter AfD-Wähler_innen zeigt sich auch eine im Schnitt deutlich erhöhte Ablehnung der Demokratie (Befürwortung einer Rechtsautoritären Diktatur) sowie hoher Antisemitismus, Sozialdarwinismus und ein ausgeprägter Hang zur Verharmlosung des Nationalsozialismus.“ (Vgl. Leipziger Autoritarismus-Studien – Rechtsextremismus, Gewaltbereitschaft, Antisemitismus, Leipzig 2020, S. 8, Schaubilder auf den fortfolgenden Seiten)

Oder, mit anderen Worten, diese Wählerschichten haben sich selbst ausgegrenzt aus dem demokratischen Konsens, haben den einstigen Volksparteien CDU/CSU und SPD (sowie der Linken) bewußt den Rücken gekehrt und eine politische Heimat in der AfD gefunden, welche sie gerade w e g e n deren Aggressivität, politischen Unkorrektheit und systemsprengenden Tendenz unterstützen. Diese für sich zurückgewinnen zu wollen, bedeutete dann nichts anderes, die häufig bemühte und für sich selbst reklamierte Mitte tatsächlich zu verlassen, um den Preis freilich, eben dort empfindlich zu verlieren. Die Konsequenz daraus kann m. E. bloß sein, keinerlei inhaltliche oder andere Konzessionen nach rechts zu machen, denn ein Großteil dieser Wähler dürfte auf Dauer wohl verloren sein. Es dürfte aber wohl auch nicht schaden, tatsächlich einmal konsequent Politik für die große Mitte (worunter ich auch die soziale Unterschicht rechne!) zu machen, und nicht bloß für selbsternannte Möchtegern-Leistungsträger.