Schlagwort-Archive: Christa Wolf

An einem Tag im Jahr …

Der schöne 27. September

 

Ich habe keine Zeitung gelesen.

Ich habe keiner Frau nachgesehn.

Ich habe den Briefkasten nicht geöffnet.

Ich habe keinem einen Guten Tag gewünscht.

Ich habe nicht in den Spiegel gesehn.

Ich habe mit keinem über alte Zeiten gesprochen und mit

keinem über neue Zeiten.

Ich habe nicht über mich nachgedacht.

Ich habe keine Zeile geschrieben.

Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht.

 

Thomas Brasch


Thomas Brasch, der schöne 27. September (1983),

zit. n. Christa Wolf: Ein Tag im Jahr. 1960-2000. Frankfurt a. M. 20133, S. 7.

 

Photographie (leider und ausnahmsweise an einem 28. September geschossen :-)) © LuxOr

 

lebenslang …

My whole life is a process of learning how to make friends with myself.*

Photographie © LuxOr

* (Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud, Berlin 2010, S. 370.)

 

„Wer schrie vor Freude …

Frage und Antwort

Frage:

„Wer schrie vor Freude, als das Blau geboren wurde?“

 

Antwort:

„Niemand anders als ein Außerirdischer muß es gewesen, der vor Freude schrie, als er zusah, wie die Erde, der blaue Planet, geboren wurde.“

 

Quellen:

Die Frage: Eine Zeile aus Pablo Nerudas „Buch der Fragen“

Frage und Antwort in: Christa Wolf: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert 2001-2011. Herausgegeben von Gerhard Wolf, Berlin 20133, S. 23.

 

Anfassen.

Stockfinstere Nacht war es heuer, gegen Viere in der Früh, als ich diese Zeilen las. Schmökerte wiederum im Tag im Jahr. Dieser Tagebucheintrag fiel mir schon vorher ob seiner ungewöhnlichen Kürze auf. Auf den letzten drei Seiten wird dann allerdings klar, woher diese Sprachlosigkeit rührt – ein Mensch ist verstorben. Nach einem schweren Autounfall. Und auch wenn die Situation eine gänzlich andere ist als heute, beschreibt die Autorin, Christa Wolf, ein universelles, zutiefst menschliches Bedürfnis (nicht nur) in Reaktion auf solch eine Schreckensnachricht, das allerdings unerfüllt bleibt. Wie auch heute leider Gottes vielfach, auch gerade im Angesicht des Todes … *

„(…) – kam der Anruf von Dieter.

Eben sei ihnen Helmut unter den Händen weggestorben.

(…)

Irgendwann ging mir eine Zeile durch den Kopf: In der Erstarrung such ich nicht mein Heil./Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil/ – „Schaudern“, das ist das Wort. Mir schaudert. Nachts wurde ich mehrmals wach, schaudernd. Daß wir alle sterben müssen? Nicht nur das, glaube ich. Daß wir falsch gelebt haben und leben? Ja. Das vielleicht noch mehr.

(…)

Ich telefonierte noch mit Annette und Tinka (ihre Töchter, Anm. L.), auch darüber, wie es in dem Krankenhaus zugegangen sei und daß Dieter darüber einen „Bericht“ machen will – Helmut ist nicht mehr ins Leben zurückzuholen. Immer sah ich ihn vor mir, wie er eine Woche vorhher war, als wir ihm sogar ein Radio brachten und glaubten, er sei über dem Berg. Er glaubte es auch. – Tinka erzählte noch von dem Besuch bei Martins Bruder in Rostock – wie deprimierend mies manche Leute hier leben müßten. Daß sie bei zwölf Grad Wassertemperatur ins Meer gesprungen sei, Helene und Anton auch.

Ich hätte sie alle um mich versammeln und jeden einzelnen anfassen mögen.“

Christa Wolf: Ein Tag im Jahr. 1960-2000. Frankfurt a. M. 20133, S. 447ff, („“Sonntag, 27. September 1987, Woserin“)

 

* Was mag darinnen vorgegangen sein?

In welcher Not muß er sich befunden haben? Und in welcher Einsamkeit?

Requiescat in Pace, Thomas Schäfer!

 

Schweigt.

Vergangene Nacht noch in Christa Wolfs Ein Tag im Jahr gelesen. Dort auf das Gedicht Schweigt des chilenischen Literatur-Nobelpreisträgers Pablo Neruda gestoßen. Teils durchaus mit aktuellem Bezug. Aber lest selbst:

Schweigt

 

Jetzt zählen wir zwölf

und wir rühren uns alle nicht.

 

Einmal laßt uns auf Erden

in keiner Sprache sprechen,

für eine Sekunde stehenbleiben,

nicht soviel die Arme bewegen.

 

Da wir nicht vermögen, einträchtig zu sein,

wenn wir unser Leben so viel rühren,

vielleicht vermag Nichtstun einmal,

vielleicht ein großes Schweigen

diese Trostlosigkeit zu unterbrechen,

dieses uns nie Verstehen,

dieses mit dem Tod uns Bedrohen,

vielleicht soll die Erde uns lehren,

wenn alles tot erscheint

und doch alles lebendig war.

 

Jetzt werde ich bis zwölf zählen

Und du schweigst und ich geh fort.

Pablo Neruda: Schweigt, zit. n. Christa Wolf: Ein Tag im Jahr. 1960-2000. Frankfurt a. M. 20133, S. 392, („“Donnerstag, 27. September 1984, Berlin, Friedrichstraße“)