Archiv der Kategorie: Lyrik

Dies ist die glücklichste Zeit …

Den standhaften Menschen in Belarus und anderswo

„Dies ist die glücklichste Zeit“

dies ist die glücklichste zeit
meines lebens
sagt er
es ist wie ein leben nach dem tod
wie leben an sich statt
tod
es lässt sich unmöglich erklären
und wozu auch
unmöglich es vorherzusehen
unmöglich es nicht zu sehen
augenblicklich
du gehst zwischen toten häusern
und plötzlich: die auferstehung der toten
überall auferstehung der toten
überall kommen menschen aus den toten häusern
sie steigen heraus aus den gräbern heraus auf die
straßen
ziehen staunende menschenmengen
lebende in hellen scharen
sie lachen und weinen und singen und tanzen
wie unsterbliche
wie an abgestorbenen sträuchern die knospen sich
öffnen
wie der raum badet in einer wolke
aus roten und weißen blüten
wie bienen summen berauscht
im schweren trunkenen blütenstaub
wie sie einander lieben
wie noch niemand je
in meinem leben
sagt er

Dmitrij Strozew

Heim

Heim

Einst wollte ich heim zu Dir.

Doch zögerte ich an der Schwelle.

Nun bist Du längst verzogen.

Und ich bin mir selbst auf ewig gram.

 

Blacknuss Allstars – Made in Sweden

(CD/Album; BMG/Diesel Music – 74321 24745 2; Germany 1995)

 

Reinhard Mey: Farben (CD/Album; Intercord – 860.234; Germany 1990)

 

För allt …

 

För allt du hatar hos dig själv – förlåt dig själv.

För allt du älskar hos dig själv – förlåt dig själv.

För allt du skäms över.

För allt du är stolt över.

För allt du vill dölja.

För allt du vill visa upp.

För allt som inte blev som det skulle.

För allt du är.

För allt du ville vara.

 

Förlåt dig själv.

 


 

Für alles, was Du an Dir haßt – vergebe Dir selbst.

Für alles, was Du an Dir liebst – vergebe Dir selbst.

Für alles, dessen Du Dich schämst.

Für alles, worauf Du stolz bist.

Für alles, was Du verbergen möchtest.

Für alles, was Du vorzeigen möchtest.

Für alles, was nicht wurde wie es hätte sollen.

Für alles, was Du bist.

Für alles, was Du sein wolltest.

 

Vergebe Dir selbst.

 

Jonas Gardell

 

(Jonas Gardell: En komikers uppväxt, Stockholm 1994, S. 5)

 

 

Alles Sch …

-wätzer!

 

Kurzschlüsse. Einladungen. Besüchle. Ausflüge.

Wochenendtrips. Gemütliche abendliche Stelldicheins.

Auch die uneingelösten Geschenkgutscheine sind mittlerweile schon Legion.

 

Keine Einzelfälle, sondern offenbar mit System.

Denn es sei ja alles bloß so eine Idee gewesen, nichts weiter.

Des Silbers zu viel.

 

Keine Verläßlichkeit mehr, bloß noch unverbindliches Geschwätz.

Keine Freundschaft mehr, bloß noch eine Art Geschäftsbeziehung.

Kein Geben und Nehmen auf Gegenseitigkeit,

allenfalls noch Rosinenpickerei.

 

Bin ich zu naiv, zu leichtgläubig, zu vertrauensselig?

Habe ich vielleicht zu hohe Erwartungen,

ist mein Maß etwa zu rigoros?

Welch Segen dagegen Menschen, die schweigend handeln.

 

An einem Tag im Jahr …

Der schöne 27. September

 

Ich habe keine Zeitung gelesen.

Ich habe keiner Frau nachgesehn.

Ich habe den Briefkasten nicht geöffnet.

Ich habe keinem einen Guten Tag gewünscht.

Ich habe nicht in den Spiegel gesehn.

Ich habe mit keinem über alte Zeiten gesprochen und mit

keinem über neue Zeiten.

Ich habe nicht über mich nachgedacht.

Ich habe keine Zeile geschrieben.

Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht.

 

Thomas Brasch


Thomas Brasch, der schöne 27. September (1983),

zit. n. Christa Wolf: Ein Tag im Jahr. 1960-2000. Frankfurt a. M. 20133, S. 7.

 

Photographie (leider und ausnahmsweise an einem 28. September geschossen :-)) © LuxOr

 

Vom armen B. B.

Vom armen B. B.

 

1

Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern.

Meine Mutter trug mich in die Städte hinein

Als ich in ihrem Leibe lag. Und die Kälte der Wälder

Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.

 

2

In der Asphaltstadt bin ich daheim. Von allem Anfang

Versehen mit jedem Sterbsakrament:

Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein.

Mißtrauisch und faul und zufrieden am End.

 

3

Ich bin zu den Leuten freundlich. Ich setze

Einen steifen Hut auf nach ihrem Brauch.

Ich sage: es sind ganz besonders riechende Tiere

Und ich sage: es macht nichts, ich bin es auch.

 

4

In meine leeren Schaukelstühle vormittags

Setze ich mir mitunter ein paar Frauen

Und ich betrachte sie sorglos und sage ihnen:

In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.

 

5

Gegen abends versammle ich um mich Männer

Wir reden uns da mit »Gentleman« an

Sie haben ihre Füße auf meinen Tischen

Und sagen: es wird besser mit uns. Und ich frage nicht: wann.

 

6

Gegen Morgen in der grauen Frühe pissen die Tannen

Und ihr Ungeziefer, die Vögel, fängt an zu schrein.

Um die Stunde trink ich mein Glas in der Stadt aus und schmeiße

Den Tabakstummel weg und schlafe beunruhigt ein.

 

7

Wir sind gesessen ein leichtes Geschlechte

In Häusern, die für unzerstörbare galten

(So haben wir gebaut die langen Gehäuse des Eilands Manhattan

Und die dünnen Antennen, die das Atlantische Meer unterhalten).

 

8

Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind!

Fröhlich machet das Haus den Esser: er leert es.

Wir wissen, daß wir Vorläufige sind

Und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes.

 

9

Bei den Erdbeben, die kommen werden, werde ich hoffentlich

Meine Virginia nicht ausgehen lassen durch Bitterkeit

Ich, Bertolt Brecht, in die Asphaltstädte verschlagen

Aus den schwarzen Wäldern in meiner Mutter in früher Zeit.

 

Das Gedicht erschien unter dem Titel Vom armen B. B. im Anhang von

Brecht: Hauspostille 1927, 140-143* (→ Brecht: Taschenpostille 1926, 41)

Bertolt Brecht, Notizbücher (Elektronische Edition, Anhang NB 13), S. 21f

 

Photographie © LuxOr

 

in memoriam …

Heute vor 75 Jahren wurde Albrecht Haushofer (1903-1945) ermordet.

 

Moabiter Sonette

 

I . IN FESSELN

 

Für den, der nächtlich in ihr schlafen soll,

so kahl die Zelle schien, so reich an Leben

sind ihre Wände. Schuld und Schicksal weben

mit grauen Schleiern ihr Gewölbe voll.

 

Von allem Leid, das diesen Bau erfüllt,

ist unter Mauerwerk und Eisengittern

ein Hauch lebendig, ein geheimes Zittern,

das andrer Seelen tiefe Not enthüllt.

 

Ich bin der erste nicht in diesem Raum,

in dessen Handgelenk die Fessel schneidet,

an dessen Gram sich fremder Wille weidet.

 

Der Schlaf wird Wachen wie das Wachen Traum.

Indem ich lausche, spür ich durch die Wände

Das Beben vieler brüderlicher Hände.

 

 

V . AN DER SCHWELLE

 

Die Mittel, die aus diesem Dasein führen,

ich habe sie geprüft mit Aug‘ und Hand.

Ein jäher Schlag – und keine Kerkerwand

Ist mächtig, meine Seele zu berühren.

 

Bevor der Posten, der die Tür bewacht,

den dicken Klotz von Eisen sich erschlösse,

ein jäher Schlag – und meine Seele schösse

hinaus ins Licht – hinaus in ferne Nacht.

 

Was andre hält an Glauben, Wünschen, Hoffen,

ist mir erloschen. Wie ein Schattenspiel

scheint mir das Leben, sinnlos ohne Ziel.

 

Was hält mich noch – die Schwelle steht mir offen.

Es ist uns nicht erlaubt, uns fortzustehlen,

mag uns ein Gott, mag uns ein Teufel quälen.

 

 

XXXIX . Schuld

 

Ich trage leicht an dem, was das Gericht

mir Schuld benennen wird: an Plan und Sorgen.

Verbrecher wär‘ ich, hätt‘ ich für das Morgen

des Volkes nicht geplant aus eigner Pflicht.

 

Doch schuldig bin ich anders als ihr denkt,

ich mußte früher meine Pflicht erkennen,

ich mußte schärfer Unheil Unheil nennen –

mein Urteil hab ich viel zu lang gelenkt …

 

Ich klage mich in meinem Herzen an:

ich habe mein Gewissen lang betrogen,

ich hab mich selbst und andere belogen –

 

ich kannte früh des Jammers ganze Bahn –

ich hab gewarnt – nicht hart genug und klar!

und heute weiß ich, was ich schuldig war …

 

Haushofer, Albrecht (1993): Moabiter Sonette. Mit einem Nachwort von Ursula Laack-Michel, 4. Auflage, München, S. 9, 13, 47. Erstveröffentlichung 1946.

 

Schweigt.

Vergangene Nacht noch in Christa Wolfs Ein Tag im Jahr gelesen. Dort auf das Gedicht Schweigt des chilenischen Literatur-Nobelpreisträgers Pablo Neruda gestoßen. Teils durchaus mit aktuellem Bezug. Aber lest selbst:

Schweigt

 

Jetzt zählen wir zwölf

und wir rühren uns alle nicht.

 

Einmal laßt uns auf Erden

in keiner Sprache sprechen,

für eine Sekunde stehenbleiben,

nicht soviel die Arme bewegen.

 

Da wir nicht vermögen, einträchtig zu sein,

wenn wir unser Leben so viel rühren,

vielleicht vermag Nichtstun einmal,

vielleicht ein großes Schweigen

diese Trostlosigkeit zu unterbrechen,

dieses uns nie Verstehen,

dieses mit dem Tod uns Bedrohen,

vielleicht soll die Erde uns lehren,

wenn alles tot erscheint

und doch alles lebendig war.

 

Jetzt werde ich bis zwölf zählen

Und du schweigst und ich geh fort.

Pablo Neruda: Schweigt, zit. n. Christa Wolf: Ein Tag im Jahr. 1960-2000. Frankfurt a. M. 20133, S. 392, („“Donnerstag, 27. September 1984, Berlin, Friedrichstraße“)

Das rechte Maß

Das rechte Maß

Wilde Schwermut

bei der Erinnerung

an Zeiten des Glückes.

Das Maß des Lebens und der Liebe

nicht bis zum Rande gefüllt?

 

Jäher Schrecken –

schon ein Glücksfall

in kleinen Gemeinschaften

dahinleben.

Das Füllhorn reich geöffnet.

 

Ein Montage-Gedicht

Basierend auf: Ernst Jünger (1939): Auf den Marmorklippen. Roman, Berlin 20068, S. 5.

Inspiriert durch Großstadtpoetin

Herbst-Spätlese …

 

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Herbst

Rings ein Verstummen, ein Entfärben:
Wie sanft den Wald die Lüfte streicheln,
Sein welkes Laub ihm abzuschmeicheln;
Ich liebe dieses milde Sterben.

Von hinnen geht die stille Reise,
Die Zeit der Liebe ist verklungen,
Die Vögel haben ausgesungen,
Und dürre Blätter sinken leise.

Die Vögel zogen nach dem Süden,
Aus dem Verfall des Laubes tauchen
Die Nester, die nicht Schutz mehr brauchen,
Die Blätter fallen stets, die müden.

In dieses Waldes leisem Rauschen
Ist mir als hör‘ ich Kunde wehen,
daß alles Sterben und Vergehen
Nur heimlich still vergnügtes Tauschen.

Nikolaus Lenau (1802-1850)

 

Photographie (unbearbeitet) & Filmchen © LuxOr

 

Der andere Blick …

 

All that we see or seem
Is but an illusion within an illusion.

Frei nach Edgar Allan Poe (1809-1849):

A Dream Within a Dream (1849)

 

 

Photographie © Hetty Wortspeicher / LuxOr

 

übern Gottesacker …

 

Der Friedhof

Dort, wo gemach die Eb’ne in Wellen sich
zum Hügel aufschwingt, steht noch in gelbem Laub
ein Bäumepaar allein, ertrinkend
Kreuze noch dort in dem Herbstgesträuche.

Und still hinab verliert in die Weite sich
ein Weg. Den halten Bäume dir rot im Blick
lang noch, wenn schon ins Grenzenlose
alles verwehte -, vom Wind getrieben.

Da wandle die verwachsenen Pfade noch
zum Hügel auf und steh bei den Kreuzen lang,
und blick nach Westen, wo das letzte
Feuer versinkt in ein armes Glühen.

 

Johannes Bobrowski (1917-1965)

 

 

Photographie © LuxOr

Über allen Wassern ist Ruh …

Herbst, ja du bist’s!
Dich hab ich vernommen!

 

Photographie © LuxOr

Wie ein aufgeschlagenes Buch …

Der klassische Liedvers des Monats:

“ (…) You’e the book that I have opened / And now I’ve got to know much more.“

(Massive Attack: Unfinished Sympathy; Blue Lines (1991), Wild Bunch Records / Circa)

 

Kognitivismus, angewandt auf Gehote …

Vollmond © Brigitte.de

 

Nhact ist sochn hireensegenkun,

Scheißlt scih hilieg Stren an Stren,

Gßore Lechtir, kielne Fenkun

Gritzeln nah und gleznän fren;

 

Gritzeln heir im See scih speilengd,

gleznän doebrn krelar Nhact,

Teistfen Rheuns Gülck beseilengd

Hrerscht des Mednos vlole Phract.

 

Quelle: Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

Faust. Der Tragödie zweiter Teil, 1832. 1. Akt, Szene: Anmutige Gegend, Chor.