Archiv für den Monat Juli 2020

Von ausgepressten Zitronen …

  • Von Jürgen Kalwa, New York
  • Aktualisiert am

Der Amerikaner Michael Phelps ist der erfolgreichste Olympionike der Geschichte. Doch der Schwimmer litt während seiner Karriere enorm – nicht nur unter Depressionen. Nun klagt er den organisierten Sport an.

Als ob es noch eines Beweises bedurft hätte: (nicht nur, denn das zeigen auch die Rücktritte von Fußballern in den letzten Tagen oder wohl auch das tragische Beispiel eines Jan Ullrich) olympischer Hochleistungssport ist Mord auf Raten. Dabei sein ist alles? Von wegen! Das war allenfalls einmal. Was allein zählt ist die durch maschinengleich erbrachte Leistung maximierte Rendite der Entourage.  Bis die Zitrone eben vollständig ausgepresst ist. Doch welches Leben ist zu erwarten nach den wenigen Augenblicken des kurzen Ruhms? Falls sich dieser trotz aller Torturen überhaupt je einstellt … Wer kann da noch guten Gewissens derlei Events goutieren? (Obwohl, ich bin leider Gottes selbst Teil dieses Systems, verfolge ich doch seit ewigen Zeiten schon die Bergetappen der Tour, niemand ist ohne Fehl).

 

Selbstoffenbarung

Kürzlich nächtens lange noch im letzten Buch meiner derzeitigen Lieblingsautorin geschmökert. Dabei an einem Satz hängengeblieben, den die Erzählerin jemandem in den Mund legt. „Man ist nicht auf der Welt, um sich zu bessern, aber um sich zu öffnen.“ Tatsächlich?, frage ich mich. Gut, aus dem ganzen Kontext schließe ich, daß es hier nicht um die allseits hoch im Kurs stehende Selbstoptimierung beinahe um jeden Preis, sei es nun im Beruf, bei der Körperstählung, bei der Ernährung, im Sport oder wo auch immer zu tun ist. Das erzeugt letzten Endes nur Verbissenheit und ist daher auch schwer in Einklang zu bringen mit den Befindlichkeiten anderer. Aber ist auch keine Besserung anzustreben, wenn es sich, sagen wir mal, um gewisse Marotten oder Ticks handelt, welche unsere Zeitgenossen mitunter auf eine harte Geduldsprobe stellen? Ich bin etwas irritiert, das ähnelt doch allzu sehr einer radikal individualistischen Sichtweise nach dem Motto: „Ich bin gut so, wie ich bin, sollen doch die anderen schauen, wie sie mit mir auskommen.“

Aber vielleicht ist des Pudels Kern, der vermeintlichen Verwirrung Lösung ja im letzten Glied der Aussage zu suchen. Was bedeutet denn eigentlich sich öffnen? Und wer ist überhaupt der Adressat dieser Eröffnung? Ich öffne mich also meinen Mitmenschen, wenn ich meine Ängste, Nöte, Wünsche und Freuden mit ihnen teile. Sich mit-zuteilen ist ein menschliches Grundbedürfnis, das zu einem Gutteil zu unserem „seelischen“ Gleichgewicht beiträgt. Daß ich dabei nicht in einen Monolog verfalle, versteht sich von selbst, eine Einbahnstraße, eine Art Selbstgespräch vor Claqueuren kann nicht das Ziel sein. Nein, ein Dialog, ein Zwiegespräch ist gemeint. Ich mache mich gleichzeitig also empfänglich für die Empfindungen meiner Mitmenschen. Gut zuhören und auf Nuancen und Schwingungen achten zu können, sind hilfreiche Voraussetzungen hierfür. Unabdingbar, sich öffnen zu können, scheint mir letztlich aber eine andere Qualität zu sein. Denn um mich auf mein Gegenüber richtig einstellen zu können, bedarf es zuvörderst der Selbst-Prüfung. Bin ich denn mir selbst gegenüber überhaupt offen, bin ich ehrlich mit mir, gebe ich mir Rechenschaft über mein eigenes Verhalten, über mein Tun und Lassen meiner Umwelt, aber auch mir selbst gegenüber? Erst wenn ich dazu bereit bin, mich selbst radikal zu hinterfragen, mich meinen eigenen „Dämonen“ zu stellen und aus dieser kontinuierlichen Selbst-Sezierung heraus immer wieder aufs Neue gewillt bin, bisweilen auch schmerzhafte Konsequenzen zu ziehen, mich selbst nicht als Nabel der Welt zu sehen oder mich zu wichtig zu nehmen, mich mir also selbst zu öffnen, bin ich auch in der Lage, anderen unvoreingenommen zu begegnen, andere Perspektiven anzuerkennen, Verständnis oder Nachsicht zu zeigen und Mitgefühl zu entwickeln. Rückhaltlose Selbst-Offenbarung, das ist kein einfacher Weg, fürwahr, vielfach leichter gesagt, als getan, sicherlich auch häufig von Rückschlägen begleitet – doch gibt es einen bessern?

 

Photographie © @ufdieBlende / LuxOr

 

Ja, FR hat, was alle suchen …

oder wo schmucke Innenhöfe zum Verweilen einladen.

 

„Z‘ Friburg in de Stadt,

sufer isch’s un glatt“.

(Johann Peter Hebel)

– von wegen!

 

Photographie © LuxOr

 

 

Der Schein der Sonne …

oder welche Art  von Verrat.

(…) Aber die Stadt war zum Staunen. Sie war nichts als ein dunkler, schieferfarbener Strich, aus dem die Türme aufwuchsen. Gregor zählte sie: sechs Türme. Ein Doppelturm und vier einzelne Türme, die Schiffe ihrer Kirchen weit unter sich lassend, als rote Blöcke in das Blau der Ostsee eingelassen, ein riesiges Relief. Gregor stieg vom Rad und betrachtete sie. Er war auf diesen Anblick nicht gefaßt. Sie hätten es mir sagen können, dachte er. Aber er wußte, daß die Leute im Zentralkomitee für so etwas keinen Sinn hatten. Für sie war Rerik ein Platz wie jeder andere, ein Punkt auf der Landkarte, in dem sich eine Zelle der Partei befand, eine Zelle hauptsächlich aus Fischern und den Arbeitern einer kleinen Werft. Vielleicht war auch nie jemand vom Zentralkomitee in Rerik gewesen. Sie hatten keine Ahnung, daß es hier diese Türme gab. Und wenn sie es wußten, so würden sie doch nur über Gregors Ansicht lachen, daß solche Türme einen Einfluß auf die Parteiarbeit hätten. Wenn Gregor ihnen gesagt hätte, was er im Anblick von Rerik dachte, daß man nämlich in einer Stadt, in der es solche Türme gab, mit ganz anderen Argumenten arbeiten müsse als mit denen, die für gewöhnlich in den Flugblättern standen, so hätten sie nur die Schultern gezuckt. Bestenfalls hätten sie gesagt: dort wohnen genau die gleichen Menschen wie auf dem Wedding. Und das war richtig. Die Fischer von Rerik waren sicherlich genau die gleichen Menschen wie die Arbeiter von Siemensstadt. Aber sie wohnten unter den Türmen. Sie wohnten selbst dann noch unter ihnen, wenn sie auf die See hinausfuhren. Denn die Türme waren auch Seezeichen.

Von ihnen aus muß die See bis an die Grenze des Hoheitsgebietes zu beobachten sein, dachte Gregor. Sieben Meilen. Sieben Meilen Flucht lagen im Blick dieser Türme. Aber auf keinen Fall saßen die Anderen in den Turmluken. Das war eine gute Sache, dachte Gregor, daß es keine Türme für die Anderen waren. Wer saß denn darin? Niemand saß darin. Es waren leere Türme.

Aber obwohl die Türme leer waren, fühlte sich Gregor von ihnen beobachtet. Er ahnte, daß es schwierig sein würde, unter ihren Blicken zu desertieren. Er hatte es sich ziemlich einfach vorgestellt: sein letzter Instrukteurauftrag lautete auf Rerik, er würde ihn ausführen und dabei den Verbindungsmann aus Rerik über die Hafen- und Transportverhältnisse ausforschen. Aber er hatte nicht mit diesen Türmen gerechnet. Sie sahen alles. Auch einen Verrat.

Plötzlich erinnerte sich Gregor daran, daß er sich schon einmal von einem Hügel aus einer Stadt am Meer genähert hatte. Die Stadt hatte Tarasovka geheißen. Tarasovka auf der Halbinsel Krim. Es war Abend geworden, und sie hatten endlich die Erlaubnis bekommen, die Luken der Panzer zu öffnen, und Gregor war sogleich mit dem Oberkörper durch die Luke gekrochen, um frische Luft zu schöpfen, den Abendwind eines Manövertags der Roten Armee. Da hatte er die Stadt drunten am Fuß der Steppenhügel liegen sehen, ein Gewirr aus grauen Hütten an der Küste eines golden schmelzenden Meeres – ganz anders war diese Stadt gewesen als Rerik mit seinen roten Türmen vor dem eisigen Blau der Ostsee -, und der Genosse Leutnant Choltschoff, aufrecht in der Luke des Panzers, der vor Gregors Panzer fuhr, hatte ihm zugerufen: Das ist Tarasovka, Grigorij! Wir haben Tarasovka genommen! Gregor lachte zurück, aber es war ihm gleichgültig, daß die Tankbrigade, der er als Manövergast zugeteilt war, Tarasovka genommen hatte, er war plötzlich fasziniert von dem goldenen Schmelzfluß des Schwarzen Meeres und dem grauen Gestrichel der Hütten am Ufer, ein schmutzig-silbernes Gefieder, das sich zusammenzuziehen schien unter der Drohung eines dumpf dröhnenden Fächers aus fünfzig Tanks, aus fünfzig dröhnenden Wolken Steppenstaubs, aus fünfzig Pfeilen eisernen Staubs, gegen die Tarasovka den goldenen Schild seines Meeres erhob. Und Gregor sah, wie der Kommandeur, im vordersten Panzer stehend, seinen Arm erhob; das Dröhnen erstarb, die große Steppenbewegung stand still, und die Wolken Staubs erhoben sich zu Schleiern, zu Fahnen, die sich senkten vor dem Schild aus Gold. Unter seinem Gefieder aus fünfhundert grauen Hütten begann Tarasovka wieder zu atmen, ehe der Tag erlosch.

Im Anblick Reriks erinnerte Gregor sich an Tarasovka, weil dort sein Verrat begonnen hatte. Der Verrat hatte darin bestanden, daß ihm, als einzigem, der goldene Schild wichtiger gewesen war als die Einnahme der Stadt. Gregor konnte nicht feststellen, ob Choltschoff und die übrigen Offiziere und Soldaten den Schild überhaupt gesehen hatten; sie sprachen nur über ihren Sieg. Für Choltschoff war Tarasovka eine Stadt, die zu erobern war; für die Genossen des Zentralkomitees war Rerik ein Punkt, der gehalten werden mußte – es gab keine goldenen Schilde, die sich erhoben, keine roten Riesentürme, die Augen hatten.

Vielleicht hatte der Verrat schon früher begonnen, vielleicht schon in einem plötzlichen Ermüden während einer Vorlesung in der Lenin-Akademie, auf die der Jugendverband Gregor geschickt hatte, für seine organisatorischen Verdienste in Berlin. Es wäre besser gewesen, wenn sie mich nie dorthin geschickt hätten, dachte Gregor, in das Land, in dem wir gesiegt haben. Wenn der Sieg errungen war, hatte man Zeit, sich für anderes zu interessieren als für den Kampf. Sie hatten ihm zwar gepredigt, auch in ihrem Lande ginge der Kampf weiter, aber ein Kampf nach dem Sieg war etwas ganz anderes als ein Kampf vor dem Sieg. Am Abend von Tarasovka hatte Gregor begriffen, daß er Siege haßte.

Was hatte er aus Moskau mitgebracht? Nichts als einen Namen. In die Lenin-Akademie trat man ein wie in ein Kloster: man legte seinen Namen ab und wählte einen neuen. Er ließ sich Grigorij nennen. Während er in Moskau die Technik des Sieges studierte, hatten die Anderen in Berlin gesiegt. Man schickte ihn über Wien zurück, mit einem falschen Paß, der auf den Namen Gregor lautete. Er lernte eine dritte Form des Kampfes kennen: den Kampf nach einer Niederlage. In den Kampfpausen dachte er an den goldenen Schild von Tarasovka. Die Genossen im Zentralkomitee waren nicht mit ihm zufrieden. Sie fanden, er sei flau geworden.

Alfred Andersch: Sansibar oder der letzte Grund. Roman, Zürich 1970 (EV 1957), S. 20-23.

 

 

Photographie (noch mittels eines vorsintflutlichen Nokia-Handys vor bald zehn Jahren)

© LuxOr

 

Ready for …

the next Drive-by-Shooting?

 

(D-b-S war der Running Gag des Abendspaziergangs,

hervorgerufen durch irgendwelche Halbstarke

in ihrem aufgemotzten mattschwarzen Mercedes

und – nicht zu vergessen – mit Goldkettchen behängt,

welche verdächtig orientierungslos hin- und herschlichen,

vor und wieder zurück, gewendet und auch mal

parkiert, dann lautstark telephoniert)

Oder ist das bereits der Tatort-Reiniger?

 

Photographie © LuxOr

 

Künstliche Intelligenz oder alternative Realitäten

Unverkennbar, wir befinden uns auf dem Lande. Ein schmales Sträßchen ohne Mittelstreifen schlängelt sich saftigen Wiesen entlang durch sanft abfallende Hänge. Leitungsmasten säumen ihren Lauf. Im Vordergrund rechts zweigt eine Stichstraße ab, eventuell zu einem abseits gelegenen Bauernhof führend. Und über allem schweben wie hingetupft eine ganze Reihe schmucker Watte-Wolken. Eine Szenerie also, die Ruhe und Frieden ausstrahlt.

Aber tatsächlich? Ist dem wirklich so? Läßt es einen nicht stutzen, wie sich die erwähnte Stichstraße zuerst etwas verbreitert, nur um sich sogleich wieder zu verengen? Gut, das kann auch der Perspektive geschuldet sein. Aber wieso steht dann dieser Leitungsmast so ganz vereinzelt rechts? Und warum endet schließlich der Hauptweg scheinbar im Nichts bzw. strebt offenbar auf einen „Abgrund“ zu?

Des Rätsels mutmaßliche Lösung: Künstliche Intelligenz. Der ein oder die andere von uns wird es vielleicht – verwundert zuerst, dann aber zunehmend erfreut – auch schon festgestellt haben, daß manche Photo-Apps aus sich in der Perspektive überlappenden Einzelaufnahmen „künstliche“ Panoramen basteln. Das ist in den meisten Fällen auch durchaus hübsch anzusehen. Doch in manchen Augen-Blicken erweist sich auch die Überfoderung solch einer (billigen Kamera-) Technologie. Was wohl auch der Tatsache geschuldet sein mag, daß hier aus einem fahrenden Auto heraus photographiert worden ist. Damit sich einjede/r nun ein eigenes Bild von der Vor-Täuschung machen kann, seien an dieser Stelle nun auch die beiden Einzelaufnahmen dokumentiert, welche vermultich Pate gestanden haben dürften als vermeintlich vom selben Standpunkt aus aufgenommene.

Und schließlich sei hier noch ein weiteres Beispiel kruder Verzerrung der Realität durch ein fabriziertes Panorama gegeben. Dessen Unwirklichkeit allerdings von vornherein ersichtlich ist. Darum merke: Auch der harmlos scheinenden Hobby-Schönwetter-Natur-Sehenswürdigkeits-Photographie ist mitunter nicht zu trauen.

 

Photographie © LuxOr

Wenn sich der Tag langsam zu Ende neigt …

und die Sonne allmählich im Meer versinkt,

werden Enten wunderfitzig und kommunikativ!

 

Zum geneigten Weiterlesen:

quak-quak & watschl-watschl oder das Wesentliche

 

Photographie © LuxOr