Archiv für den Tag 24. Juni 2020

hart oder roh

Es regnet

Als ich am nächsten Morgen in das Gymnasium kam und die Treppe zum Lehrerzimmer emporstieg, hörte ich auf dem zweiten Stock einen wüsten Lärm. Ich eilte empor und sah, daß fünf Jungen, und zwar E, G, R, H, T, einen verprügelten, nämlich den F.

„Was fällt euch denn ein?‟ schrie ich sie an. „Wenn ihr schon glaubt, noch raufen zu müssen wie die Volksschüler, dann rauft doch gefälligst einer gegen einen, aber fünf gegen einen, also das ist eine Feigheit!‟

Sie sahen mich verständnislos an, auch der F, über den die fünf hergefallen waren. Sein Kragen war zerrissen. „Was hat er euch denn getan?‟ fragte ich weiter, doch die Helden wollten nicht recht heraus mit der Sprache und auch der Verprügelte nicht. Erst allmählich brachte ich es heraus, daß der F den fünfen nichts angetan hatte, sondern im Gegenteil: die fünf hatten ihm seine Buttersemmel gestohlen, nicht, um sie zu essen, sondern nur, damit er keine hat. Sie haben die Semmel durch das Fenster auf den Hof geschmissen.

Ich schaue hinab. Dort liegt sie auf dem grauen Stein. Es regnet noch immer, und die Semmel leuchtet hell herauf.

Und ich denke: vielleicht haben die fünf keine Semmeln, und es ärgert sie, daß der F eine hatte. Doch nein, sie hatten alle ihre Semmeln, und der G sogar zwei. Und ich frage nochmals: „Warum habt ihr das also getan?‟ Sie wissen es selber nicht. Sie stehen vor mir und grinsen verlegen. Ja, der Mensch dürfte wohl böse sein, und das steht auch schon in der Bibel. Als es aufhörte zu regnen und die Wasser der Sündflut wieder wichen, sagte Gott: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde strafen um der Menschen willen, denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.‟

Hat Gott sein Versprechen gehalten? Ich weiß es noch nicht. Aber ich frage nun nicht mehr, warum sie die Semmel auf den Hof geworfen haben. Ich erkundige mich nur, ob sie es noch nie gehört hätten, daß sich seit Urzeiten her, seit tausend und tausend Jahren, seit dem Beginn der menschlichen Gesittung, immer stärker und stärker ein ungeschriebenes Gesetz herausgebildet hat, ein männliches Gesetz: Wenn ihr schon rauft, dann raufe nur / einer gegen einen! Bleibet immer ritterlich! Und ich wende mich wieder an die fünf und frage: „Schämt ihr euch denn nicht?‟

Sie schämen sich nicht. Ich rede eine andere Sprache. Sie sehen mich groß an, nur der

Verprügelte lächelt. Er lacht mich aus.

„Schließt das Fenster‟, sage ich, „sonst regnets noch herein!‟

Sie schließen es.

Was wird das für eine Generation? Eine harte oder nur eine rohe?

Ich sage kein Wort mehr und gehe ins Lehrerzimmer. Auf der Treppe bleibe ich stehen und lausche: ob sie wohl wieder raufen? Nein, es ist still. Sie wundern sich.

 

Ödön von Horváth (1901-1938): Jugend ohne Gott. Frankfurt a. M. 2008 (EV Amsterdam 1937), S. 10-12.

Die neue Normalität des Nachtlebens?

Das ist die Zukunft, werte Freidemokraten oder Bündnisgrüne oder Linke. Es bedarf keiner politischen Haltung mehr, welche man bei einer solchen Klientel wohl ohnehin vergeblich suchen dürfte (oder sollte es sich hierbei etwa um kritische Zukunftsbesorgte handeln, um Jobbange oder Klimabewegte, die sich ihren Frust im Kollektiv wegnebeln?), um Randale zu feiern. Nein, die Ausschreitungen in Stuttgart Samstagnacht sind schlichtweg Selbstzweck, die Party im Quadrat gleichsam. Ausgelöst wurde sie offenbar durch eine Drogenkontrolle und nachfolgende Festnahme. (Über deren genauen Hergang ist dem Schreiber dieser Zeilen nichts Näheres bekannt. Alsbald werden aber eventuell mehrere alternative Versionen darüber in Umlauf kommen. Vielleicht ist auch alles medial aufgebauscht. Das Geschehen als solches ist auch – leider, muß man sagen – wohl nicht ungewöhnlich, neu ist anscheinend bloß das Ausmaß und die hohe Zahl an Beteiligten. Alle deutschalternative und andere Rechtsausleger seien jedenfalls daran erinnert: der Drogenkontrollierte ist Deutscher. Und der mutmaßliche Totschläger ebenfalls, gerade 16 Jahre alt.) Allein dies war der Funke, eine bis dahin lärmend wegelagernde Menge Volkes urplötzlich in eine schließlich in die mittlere Hunderte gehende marodierende Meute zu verwandeln, die, befreit von jeglichen Hemmungen, begeistert ihre (post-)pubertäre Plünderungsparty durch die Stuttgarter Innenstadt massenneuemedienwirksam zu zelebrieren gewillt war. Denn endlich ist mal was geboten!

Dasselbe Schema läßt sich schon bei Videospielereien beobachten. Der Gewöhnungseffekt stellt sich bald ein. Weshalb es unsere Psyche stets nach Steigerung der Sensationen gelüstet. Je extremo-oller, desto doller. Vielleicht haben die Eltern der nun u. a. wegen versuchten Totschlags in U-Haft Sitzenden es schlichtweg versäumt, ihren Sprößlingen beizeiten aus (Bilder-)Büchern vorzulesen. Stattdessen dürften sie den lästigen Nachwuchs von Kindesbeinen an vor der Mattscheibe vermeintlich ruhiggestellt und alsbald mit Video-Spielen bestochen haben. Oder auch die Nachkommenschaft je eher, desto besser sich selbst überlassen haben. Denn die eigene zur Schau gestellte grenzenlose Liberalität ist nur das Feigenblatt der Verweigerung, Konflikte anzunehmen und sich selbst zu engagieren und Verantwortung zu tragen. Aber vielleicht haben sie selbst in ihrer Kindheit auch nichts anderes erfahren als gehetzte abwesende Eltern, die nach der vorgegebenen materiellen Erfüllung des Lebens sucht-en. Und Stadtverwaltungen schauen häufig auch lieber weg angesichts des Treibens, das sich des Nachts wochenends bzw. zu Ferienzeiten auf öffentlichen Plätzen abspielt. Man will ja schließlich hip und offen und modern und lebensfroh scheinen. Und lassen morgens dann lieber die müllenen Zeugen des nächtlichen Fastfood- und Alkohol-Konsumgelages aufwendig entsorgen. Denn die lieben Kleinen müssen doch feiern. Endemisches Erziehungsversagen also.