Archiv für den Monat Dezember 2018

What time is it?

Ist es wirklich schon so spät?

Ist es fünf vor zwölf oder nicht doch eher schon fünf nach?

 

 

Wir stehen erst relativ am Beginn von kontinentalen Verteilungskämpfen angesichts von Gelben Westen, Bürgerkriegen oder Hunger- & Natur-Katastrophen und Raubbau – zugunsten unseres Wegwerf-Konsums – rund um den Globus. Wir vermüllen und verschmutzen und verböllern, was wir nur können. (Und Nationalismus und Popelismus feiern allerorten fröhlich Urständ, derweil Europa auseinanderdriftet.) Und das alles vor dem Hintergrund des sich immer deutlicher bemerkbar machenden Klimawandels. Der freilich als kaum mehr zu beherrschende Hypothek künftigen Generationen aufgebürdet wird, da wir uns lieber in bequemlicher Ignoranz üben. Doch wie sollen nachgeborene Geschlechter diese Kraftanstrengung einer radikalen Änderung unserer Lebens- und Wirtschaftsweise durch harte Einschnitte vollbringen und gleichzeitig den Zusammenhalt, nicht nur nach innen, sondern über Grenzen hinweg, sichern und stärken, wenn, was ihnen (medial) vorgelebt wird, bereits jetzt nichts anderes als Vergnügungsmaximierung, Egoismus und Rücksichtslosigkeit, Hass und das Recht des Stärkeren ist? Eine gründliche Rehumanisierung tut not …

Hugh, Gutmensch Kassandra hat gesprochen. Aber vielleicht kommt auch alles ganz anders. Und wir besinnen uns und gehen unvoreingenommen aufeinander zu und beginnen neu von ganz unten – Willkommen 2019!

Vom Dienst an der Waffe …

So, so, die gute, alte Bundeswehr möchte also (EU-)Ausländer für die Truppe rekrutieren. (Da erfüllt sich am Ende gar doch noch die Europa-Vision der Waffen-SS  …?). Nach ersten Verlautbarungen vornehmlich als Militär-Ärzte oder IT-Spezialisten. An sich durchaus folgerichtig: wieso sollen, der Personenfreizügigkeit innerhalb der EU sei’s gedankt, nicht lange Jahre in Deutschland lebende Männer und Frauen dort an der Waffe dienen, wo sich ihr Lebensmittelpunkt befindet? Vorausgesetzt, es ergeben sich keine Konflikte aufgrund doppelter Loyalitäten. Scheint es angesichts neuer Bedrohungslagen in Ost und Süd indes nicht absehbar, daß alsbald auch Kampfformationen durch Ausländer aufzufüllen wären? Zumal es der Bundeswehr heutzutage kaum recht gelingt, in Konkurrenz zur freien Wirtschaft oder der öffentlichen Verwaltung adäquates Personal für sich zu gewinnen.

Hier rächt sich also erneut der kurzsichtige Entscheid, die Wehrpflicht auszusetzen. Die Armee eines demokratisch verfassten Gemeinwesens mit einer derart belasteten Vergangenheit sollte allerdings gerade durch das Instrument der Wehrpflicht in die Gesellschaft ein- und an sie zurückgebunden sein. Als Korrektiv und Kontrollorgan, aber auch zur Steigerung ihrer Legitimation und Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung und der Politik. Ohne Wehrpflichtige nimmt indes der Anteil jener Armee-Angehörigen zu, die allein aufgrund ihrer autoritätsgläubigen Persönlichkeit bzw. ihrer militär- und gewalt-affinen Veranlagung in die Truppe eintreten. Das seinerseits erhöht die Gefahr einer Ausbildung (rechter) gewaltbereiter Parallel-Strukturen in den Streitkräften. Angesichts der Etablierung einer rechts-populistischen Partei in Bund und Ländern nicht unproblematisch. Ob sich derlei Gefährdungen  durch eine verstärkte Einstellung von ausländischen Bewerbern auf Dauer unterbinden lassen, mag jedoch anzuzweifeln sein …

Warten – eine Art Palindrom …

 

Perspektivwechsel

 

Advent heißt Warten

Nein, die Wahrheit ist

Dass der Advent nur laut und schrill ist

Ich glaube nicht

Dass ich in diesen Wochen zur Ruhe kommen kann

Dass ich den Weg nach innen finde

Dass ich mich ausrichten kann auf das, was kommt

Es ist doch so

Dass die Zeit rast

Ich weigere mich zu glauben

Dass etwas Größeres in meine Welt hineinscheint

Dass ich mit anderen Augen sehen kann

Es ist doch ganz klar

Dass Gott fehlt

Ich kann unmöglich glauben

Nichts wird sich verändern

Es wäre gelogen, würde ich sagen:

Gott kommt auf die Erde!

 

Und nun lesen Sie den Text von unten nach oben!

 

Autor unbekannt. –

Dankenswerterweise von U. aus H. zur Verfügung gestellt und zur Weitergabe freigegeben.

 

Photographie (leicht manipuliert) © LuxOr

 

Hundertzwanzig!

Die Deutsche Umwelthilfe, kürzlich erst von der CDU – offenbar die Partei der großen Diesel-Dienstwagenflottenunterhalter (oder hatte sie etwa den viel-zitierten kleinen Handwerker von nebenan im Blick?!) -, auf ihrem Parteitag arg gescholten, tut sich endlich mit einem lange überfälligen Vorstoß hervor. Ohnehin momentan recht klage-freudig, gedenkt sie, ein flächendeckendes generelles Tempo-Limit von 120 km/h auf deutschen Autobahnen juristisch einzuklagen. Da sind mutmaßlich die „liberal“-„alternativen“ deutschen Freiheitsparteien samt den oben erwähnten Christdemokraten im Verein mit dem ADAC und nicht zu vergessen den Lobbyisten der deutschen Premium-Autobauer vor, nach dem Motto. „Freier Stau für freie Bürger“. Doch hat der Plan durchaus etwas Bestechendes, dem sich auch die unbeweglichsten bequemlichen Freiheitsapostel eigentlich nicht verschließen können. Denn neben wandernden und Dauer-Baustellen oder dem hohen Verkehrsaufkommen an sich ist die große Diskrepanz zwischen den langsamsten und den schnellsten Verkehrsteilnehmern die Hauptursache für die Entstehung von zähflüssigem Verkehr und Stau. Mit nicht zu unterschätzenden volkswirtschaftlichen Kosten. Fahren nun aber alle in einem engeren Geschwindigkeitskorridor, fließt der Verkehr viel eher, die Fahrt wird streßfreier und sicherer. Jeder, dem schon einmal ein SUV, eine Rennpappe oder ein anderweitig hochgezüchtetes Gefährt mit unverhältnismäßig hohem Tempo scheinbar ungebremst im Rückspiegel gefährlich nah auffuhr, wird dies nachvollziehen und also gutheißen können. Vor allem aber dürfte dadurch auch der Schadstoffausstoß meßbar gesenkt werden, da durch gleichmäßigeres Fahren in relativ niedrigerer Geschwindigkeit und also ohne größere Abbrems- resp. Wiederbeschleunigungsaktionen weniger schädliche Abgase herausgeschleudert würden. Es ist also höchste Zeit, endlich einmal einen ersten richtigen Schritt hin zur Entschleunigung und Zivilisierung des Auto(-bahn)-Verkehrs zu machen, dem weitere unbedingt folgen sollten, bspw. Tempo 80 auf Landstraßen wie in der Schweiz, oder innerorts generell vierzig. Und nach solch einer Regulierung des Verkehrs ist endlich auch eine Strategie zur Vermeidung von Verkehr überhaupt zu entwickeln und in die Tat umzusetzen. Aber das werden wir, falls überhaupt, erst im Zeitalter einer vollständigen E-Mobilisierung und der Implementierung autonomen Fahrens erleben. Und deren durchaus vorhandenen Schattenseiten sind wiederum eine ganz andere Geschichte …

Übergänge …

Ja, so schnell kann’s dann manchmal gehen: tags zuvor nochmals lustvoll durchs Laub geraschelt, durfte ich Sonntag dann doch den ersten Schnee begrüßen. Nach diesem doch denkwürdig eintönigen – Hach, schon wieder bloß Sonne! – und noch dazu allzu regenarmen Sommer rechnete ich für den Winter nicht wirklich mit einer dieser Jahreszeit eigentlich angemessenen Kühle (mit der es zu Weihnachten allerdings offenbar schon wieder passé sein soll, schnüff!). Zumal die Niederschlagsmenge übern Herbst auch nicht wesentlich zunahm. Umso erfreuter war ich natürlich, als ich Sonntagmorgen den Rollladen hochzog und mir eine dichte Schneedecke entgegenstrahlte. Die Verzückung ging gar so weit, daß ich meinen ursprünglichen Plan, den Oskar K. auf einem Museumsplausch in Züri näher kennenzulernen, kurzerhand über den Haufen warf und auf den Februar verlegte. Und all das bloß, um genüßlich und andächtig über den zart gepuderten weißen Teppich der Natur zu knirschen. Stromerte denn auch ganze drei Stunden durch heimischen Wald und Flur, immer wieder aufs Neue ergriffen innehaltend vor der winterlichen Schönheit (unbewegtes Bildmaterial folgt jedenfalls ein anderes Mal).

 

Um ehrlich zu sein, Herbst und Winter sind mir die liebsten Jahreszeiten, vielleicht auch, weil ich ein Dezember-Kind bin. Frühling und Sommer haben durchaus ihren Reiz, die Bäume schlagen aus, man reckt und streckt sich, man hält sich wieder länger draußen auf, man lustwandelt, man flügelt aus, man wandert Rad, man schwimmt und was weiß ich nicht noch alles … Gleichwohl ist mir das Sommerhalbjahr aufs Ganze gesehen schlichtweg zu satt, zu intensiv, zu umtriebig. Unter der zweiten Jahreshälfte ist stattdessen alles gedimmt, das Licht wird weicher (so es der Nebel nicht umstandslos einfach schluckt, aber selbst das kann seinen Reiz haben, variatio delectat eben!), die Natur – und mit ihr bisweilen auch der Mensch – kommen zur Ruhe, die früher einsetzende Dunkelheit tut das Ihrige dazu, leise rieselt dann der Schnee und still und starr liegt der See … (Ausnahmen bestätigen freilich die Regel, über die notorischen Auswüchse über Sylvester und Fastnacht wollen wir hier aber kein weiteres Wort verlieren.) Kann allerdings, wer sich (nicht erst) nach dem ersten zarten Schneefall schon wieder nach der lichten Ausgelassenheit des Sommers sehnt, überhaupt zufrieden und achtsam im Hier & Jetzt leben? Simpel ist daher noch immer die Wahrheit, daß nur, wer Dunkelheit, Melancholie, ja mitunter auch Schmerz ausdrücklich zu akzeptieren und respektieren vermag, sich tatsächlich an der Rückkehr von Helle und Wärme recht erfreuen kann. Ich arbeite zumindest daran …

Bewegte Bilder © LuxOr

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Anmerkung in eigener Sache:

Je nach Zählweise handelt es sich bei dem vorliegenden Text um meinen neunundneunzigsten Beitrag unter LuxOrs. Nach verhaltenen, akademisch veranlaßten Anfängen im Jahre zehn nach der zweiten Jahrtausendwende und eher bescheiden-halbherzigen Wiederbelebungsversuchen (und noch unter anderem Namen) vor nunmehr auch schon wieder zwei, drei Jahren, schreibe ich seit mittlerweile 1 ¾ Jahren nun halbwegs regelmäßig (nicht nur) gut-wut-bürgerlich und neuerdings auch photo-romantisch. Gedankt sei an dieser Stelle – neben der geneigten Leserschaft – daher Dario schrittWeise, der mich letztlich dazu anregte, meinen wiederholten Kultur-Kritikastereien nach Gutmenschen-Art, geistig-humoristischen Pseudo-Höhenflügen und visuellen Machwerken bloglich freien Lauf zu lassen. Auch wenn er dann nicht immer d’accord ging mit dem ein oder anderen Resultat bzw. Kommentar …

 

Herbst-Spätlese …

 

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Herbst

Rings ein Verstummen, ein Entfärben:
Wie sanft den Wald die Lüfte streicheln,
Sein welkes Laub ihm abzuschmeicheln;
Ich liebe dieses milde Sterben.

Von hinnen geht die stille Reise,
Die Zeit der Liebe ist verklungen,
Die Vögel haben ausgesungen,
Und dürre Blätter sinken leise.

Die Vögel zogen nach dem Süden,
Aus dem Verfall des Laubes tauchen
Die Nester, die nicht Schutz mehr brauchen,
Die Blätter fallen stets, die müden.

In dieses Waldes leisem Rauschen
Ist mir als hör‘ ich Kunde wehen,
daß alles Sterben und Vergehen
Nur heimlich still vergnügtes Tauschen.

Nikolaus Lenau (1802-1850)

 

Photographie (unbearbeitet) & Filmchen © LuxOr

 

Auslöschung

Schlimm genug, daß der Mensch große Säugetiere, aber auch Insekten und Pflanzen zum Aussterben bringt. (Insbesondere die Konsequenz eines Verschwindens der Letzteren ist dabei noch kaum im allgemeinen Bewußstein angelangt.) Darüber etwas aus dem Blick gerät bisweilen, daß der Mensch auch dem Menschen selbst der größte Feind ist. Und dabei soll hier nicht vom homo suicidalis, der seine Umwelt vollends zerstört, die Rede sein. Oder von genozidalen Gewaltexzessen vergangener Epochen, begangen an den First Nations, den Aborigines, den Ureinwohnern Nord- und Südamerikas oder Ozeaniens, an den Herero und Nama in Deutsch-Südwest, den Armeniern im Osmanischen Reich oder der Shoa. Auch nicht von den Massenmorden neueren Datums an den Tutsi in Rwanda oder den ethnischen Säuberungen auf dem Balkan. Oder von den systematischen Vertreibungen der Rohingya in/aus Myanmar.

Nein, heutzutage geht ein solcher Prozeß bisweilen deutlich geräuscharmer vonstatten, zumal wenn es sich um kleine bis kleinste Völkerschaften oder Stämme handelt, die keinen Staat samt Administration in unserem Sinne bilden und auch anderwärtig über kaum eine Lobby verfügen. Indigene Völker in vermeintlich abgeschiedenen Weltecken, in schwer zugänglichen, aber teils rohstoffreichen (natürlich!) Regionen der Erde; diese fallen noch immer partikularen Interessen von Repräsentanten der herrschenden Mehrheitsbevölkerung zum Opfer, insbesondere in den noch existenten Urwaldsystemen in Südamerika oder Südostasien. Solch ein trostloses Schicksal rückt exemplarisch ein neuer Dokumentarfilm über die Piripkura im brasilianischen Regenwald in den Fokus. Von diesem Volkstamm sind noch drei Angehörige übrig, von denen zwei, Onkel und Neffe, nach traditioneller Art als Jäger und Sammler im Wald untertauchen, während die letzte Frau, bereits „domestiziert“, in einer Art Sozialstation lebt. Das Ende läßt sich in diesem speziellen Falle unschwer ausmalen, denn nach dem bald zu erwartenden Ableben dieser letzten Vertreter ihres Volkstammes wird die Verfügungsgewalt über Holz und Boden(-schätze) wohl an den Meistbietenden übergehen, wenn nicht gleich an den Rücksichtslosesten. Solch eine Auslöschung betrifft jedoch nicht allein die physische Existenz. Nein, denn damit einher geht in der Regel auch das Aussterben einer Sprache. Und mit diesem Kulturträger geht also auch eine jahrhundertalte Tradition, geht eine spezifische Sicht auf das Leben, geht Welt-Wissen, geht (alternative) Kulturtechnik, ein Wert an sich, unwiederbringlich verloren.

Glücklich kann sich da noch nennen, wer auf einer abgelegenen Insel lebt. Etwa das Volk der Sentinelesen auf den Andamanen im Nirgendwo des Indischen Ozeans. Dort suchte dennoch ein US-Amerikaner im vergangenen November in einem typischen Fall westlichen Hochmuts diesen Volksstamm, welcher in selbstgewählter völliger Isolation von jeglicher „Zivilisation“ lebt, für das Christentum zu bekehren. (Wenn wir einmal von der Existenz eines liebenden Gottes ausgehen, dann wird er seinen „unschuldigen“ Kindern vermutlich genauso innig zugetan sein, wie wenn sie (zwangs-)bekehrt wären.) Obwohl jede physische Kontaktaufnahme zu den Inselbewohnern behördlicherseits verboten ist. Der Missionar wurde denn auch offenbar am Strand noch mit Pfeil und Bogen getötet.

Kann der moderne Mensch demnach, so läßt sich fragen, die Begegnung mit dem naiven Urzustand seines älteren Menschen-Bruders nicht ertragen, schämt er sich dessen und muß er folglich diese in seinen Augen uneindeutige und unnütze, wenn nicht gleich unbequeme, da implizit einen Vorwurf transportierende, Lebensart um jeden Preis seiner eigenen angleichen, ansonsten aber umstandslos vernichten?

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Postscriptum, 13./14.12.2018:

Noch diese Woche tagt in Kattowitz die UN-Klimakonferenz. Und vergangenen Montag wurde international der Wiederkehr jenes Tages gedacht, an dem vor nunmehr siebzig Jahren die Erklärung der Menschenrechte erfolgte. Der Im Verlauf der Jahrzehnte noch weitere, gleichwohl ebensowenig bindende, Pakte über wirtschaftliche und soziale Rechte und Freiheiten folgten. Vor diesem Hintergrund muß sich die sogenannte internationale Staatengemeinschaft denn auch die Frage gefallen lassen, ob sie tatsächlich nicht in der Lage sei, Rechte für Kollektive wie etwa ganze Völker zu etablieren und auch durchzusetzen, damit deren Lebens-Raum unversehrt erhalten bleibe. Sonst übernehmen alsbald selbsternannte Menschheits-Beglücker vom Schlage eines Jeff Bezos endgültig das Ruder, welcher den Exodus des homo „sapiens“ in den Kosmos projektiert. Aber das bedeutet schließlich nichts anderes als die Gestaltungs- und Widerstandskraft der Menschheit aufzugeben, denn es wäre der bequeme Weg …

Erweitern, den Horizont?

Kürzlich im Restaurant, Abendessen, gut-bürgerlich, einfach lecker. Der Alte-Herren-Freund phantasiert, er wolle einmal auf Weltreise gehen, den Horizont zu erweitern. Zugegeben, ich machte ihm seinen Tagtraum sogleich etwas madig, denn ich zog entschieden in Zweifel, ob solch Er-Fahrung heutzutage überhaupt noch möglich sei. Denn ist nicht beinah der gesamte Globus ein einziges Dorf? Hat sich nicht eine einzige Kultur, nämlich die kapitalistisch-westliche, nahezu aller Orten durchgesetzt und ist nicht der gesamte Erdball medial-pop-kulturell durch-amerikanisiert? Und herrschen nicht all überall ähnliche Alltagsvergnügungen oder Konsumwünsche vor, nähern sich nicht Perspektiven und Ziele stetig einander an? Wo kann man da ernsthaft noch auf Horizonterweiterung rechnen?

Ja, in den Elendsvierteln Südamerikas oder Südostasiens vielleicht, ganz zu schweigen vom gesamten afrikanischen Kontinent. Oder unter den Diktaturen dieser Welt abseits etwaiger Besucherströme. Aber diese Destinationen gehören wohl nicht gerade zu den Hotspots einer Weltreise. Ausnahmen davon mag es tatsächlich geben. Doch muß ich hierfür extra, sagen wir mal, in den australischen Busch aufbrechen oder zu einem Ashram nach Indien?

Außerdem nimmt man auf derlei Auszeiten wohl allzu häufig Speisen zu sich, welche einem von der Heimat her bekannt sind. Oder zumindest solche, welche dem westlichen Gaumen angepaßt sind. Und greift beim Einkauf resp. Shopping auf die üblichen Globalmarken zurück, welche in der Fremde (welche Fremde?) allenfalls unter einem anderen Namen firmieren. Und die Andenken-Industrie bietet auch wenig anderes denn folklorisierenden Kitsch feil. Und ich brauche auch keine bedrohten Tierarten – Wale, Eisbären od. dgl. – aus nächster Nähe in sogenannter „freier“ Wildbahn zu erleben. Ihnen ist mehr damit gedient, wenn sich der Mensch an ihrer nackten Existenz vom heimischen Sofa aus erfreut. Und wie vielen der Aktivitäten, die man dorten denn so betreibt, kann man nicht auch genauso gut im Heimatlande frönen? Und werden nicht die eigentlich erinnerungswürdigen Eindrücke, Augenblicke und Begegnungen durch eine schiere Reduplikation des Wunderbaren und Außergewöhnlichen in einer Art Endlosschleife letztlich allesamt dauerhaft entwertet?

(Welt-)Reisen scheinen daher häufig nichts anderes zu sein denn ein auf Dauer gesetzter Konsum materieller wie immaterieller Werte, ein einziger über Gebühr ausgedehnter Ego-Trip. Was unweigerlich in einer Übersättigung – ohnehin ein Charakteristikum unserer Zeit – resultiert, und also die eigentliche Absicht ad absurdum führt. Man mag schließlich zur Schau stellen, was man sich (vermeintlich?) leisten kann. Um sich aber noch irgendwie von der Masse abzusetzen, sucht man sich immer exotischere Reiseziele und dehnt die Reise-Abwesenheit immer weiter aus. Hierfür werden die letzten weißen Flecken der Welt-Tourismus-Karte weltmarktkonform gemacht, sei es nun der Kaukasus, Amazonien, Zimbabwe die arktische oder die Region um den Baikalsee. (Und mit dem Kosmos wartet bereits das nächste große Tourismus-Event auf solvente Exzentriker.) Und die schöne, bunte Netzwerkwelt bietet hierfür auch eine passende Bühne für like-able Selbstdarstellung und -vermarktung, mitunter jedoch hochnotpeinlich. „Ich und der Eiffelturm“, das war einmal, heute muß es mindestens „Ich auf der Golden Gate“, „Ich im Taj Mahal“, „Ich vor dem Ayers Rock“ heißen, wenn nicht gleich „Ich in Abu Ghraib“ oder „Wir in Auschwitz, Smiley“.

Darüber haben wir freilich die Bindung, das Gespür, das Interesse an dem verloren, was man heutzutage wohl als die Welt des Dazwischen bezeichnen muß. Es existieren bloß noch Ziele, der Weg dorthin ist allenfalls notwendiges Übel, das Dazwischen wird abgehängt. Reisen ehedem, selbst noch zu Anfangszeiten der Eisenbahn mit ihrer vergleichsweise geringen Geschwindigkeit, war dagegen noch ein ganzheitliches, geradezu synästhetisches Erlebnis. Will heißen, der Weg war hier beinah schon das Ziel, weil beschwerlich genug. (Regen wir uns derweil heutzutage über Verspätungen oder ganze Ausfälle von Verkehrsmitteln aufgrund höherer Gewalt oder technischen Versagens auf, ist das vergleichsweise Jammern auf höchstem Niveau.) In gemächlichem Tempo zogen Ansiedlungen, Städte, Landschaften an einem vorüber. Eine Erfahrung zu schauen, zu hören und zu schmecken. Man war überdies in beengten Verhältnissen unterwegs und kam dadurch leichter über das Geschaute und darüber hinaus ins Gespräch. Heute starrt die Mehrheit indes mit gesenktem Kopf auf einen Bildschirm, oder mit einem Kopfhörer bewehrt ins Leere.

Und ganz allgemein, das Reisen um des Reisens willen, oder aus „nichtigem“ Anlaß, mal schnell zu Konzert und Party nach London, zum Coiffeur nach Paris, zum Couturier nach Milano, zum Wochenend-Kurztrip nach Stockholm, dann hier noch ein Kongreß, da ein Sport-Event oder ein Kultur-Ereignis, dort eine Lustreise, scheint sich in unseren Tagen überdies jedenfalls zu einem unhinterfragten Grundrecht entwickelt und verselbständigt zu haben. Erkennbar auch daran, daß die Personenfreizügigkeit einen Grundpfeiler der europäischen Vergemeinschaftung darstellt. In historischer Perspektive, man denke nur an den ehemaligen „antifaschistischen Schutzwall“, in der Tat ein hohes Gut. Nachhaltig befördert durch neoliberale Deregulierungen im Transportgewerbe, insbesondere im Flugverkehr, hat diese unbeschränkte Mobilität mittlerweile allerdings ein solches Ausmaß angenommen, daß man darin kaum mehr als einen kollektiven Drang nach Bespaßung oder Betäubung zu erkennen vermag – Opium, der globalen Kultur- und Sport-(TV-)Industrie ähnlich. (Was letzteren Punkt betrifft, ist der Schreiber dieser Zeilen stets hocherfreut, wenn wieder einmal die Bevölkerung einer Stadt die von lokalen Potentaten anvisierte Bewerbung um die Austragung Olympischer Spiele in einem Volksentscheid ablehnt.). Schon macht das Schlagwort von „Overtourism“ die Runde, erst Mallorca, nun bspw. auch Berlin. Lemmingen gleich, machen sich alle übers Jahr wiederholt auf die Reise. Und schert man aus diesem Herdentrieb doch einmal aus, wird man auch noch scheel von der Seite angeschaut. Welche Regierung oder supranationale Organisation wagt da schon, an dieses Treiben Hand anzulegen, durch höhere Preise resp. Gebühren und Steuern, auch zum Wohle der Umwelt, etwa? Denn dann sind die Reihen schnell geschlossen in der Verteidigung der bürgerlichen Freiheit, wird umstandslos mit der Keule von angeblich ansonsten bedrohten Arbeitsplätzen geschwungen. Ohne freilich zu registrieren, daß man mit seinem uneinsichtigen Gebaren letztlich an dem Aste sägt, auf dem man selber sitzt.

Szenenwechsel: Gottesdienst eines Sonntagabends. Der Pfarrer predigt von einer Begebenheit während einer Jugendfreizeit in den Schweizer Alpen – ebenfalls unter dem Motto der Horizonterweiterung. Die Gruppe machte sich auf zu einer Nachtwanderung, einen Mondaufgang über einem Bergsee in der Abgeschiedenheit und Einsamkeit der Dunkelheit zu erleben. Die Teilnehmer mußten hierfür offenbar ziemlich viel Geduld aufbringen, denn das Nachtgestirn zierte sich wohl recht lange. Aber dann wurden sie umso reicher belohnt. Wie der Mond erst langsam über die Gipfel schlich und sich schließlich majestätisch über die Berge erhob, diese stimmungsvoll konturierend, um sich schließlich erhaben im Bergsee zu spiegeln. Dies muß ein eindrucksvolles Schauspiel gewesen sein. Denn eine junge Frau rief, offensichtlich von Rührung übermannt, unwillkürlich aus: „Gott ist groß.“

Solch eine Erfahrung läßt sich im Grunde an jedem beliebigen Ort erleben; Gewässer, Erhebungen oder Waldungen finden sich auch andernorts. Und andere Menschen, die sich von einer derartigen Szenerie ebenfalls ergreifen lassen. Oder überraschende Begegnungen, ein Plausch auf einer Bank am Wegesrand, der noch lange nachhallt, vermögen unseren Horizont zu erweitern. Und das scheint mir schließlich auch die eigentliche „Wahrheit“ zu sein. Es kommt absolut nicht darauf an, möglichst die entlegensten Flecken unserer Erde heimzusuchen. Nein, es kommt stattdessen allein auf die innere Haltung an, die individuelle Bereitschaft, Eindrücke, die einem der „göttliche“ Zufall vor der eigenen Haustüre schenkt, überhaupt demütig anzunehmen und auf sich wirken zu lassen. Und dann ist die Welt unter Umständen wieder ein kleines Stückchen bunter und liebenswerter. Es kommt nur auf uns an.

 

Postscriptum: Damit keine Mißverständnisse aufkommen, ich wende mich nicht generell gegen das (Welt-)Reisen, gegen eine euphemistische Etikettierung dessen freilich schon. Mich würde, neben einer ausgedehnten Tour durch Skandinavien oder Kanada, beispielsweise reizen, einmal die Weiten Sibiriens zu entdecken, und dabei vor allem auch die Halbinsel Kamtschatka. Einer Weltreise auch nicht unähnlich, bedenkt man allein schon den aufwändigen Transfer. Es scheint wohl im Menschen zu liegen, das hektische und ruhelose Streben in die Weite, die Sehnsucht nach der Ferne, die Neugierde auf die Fremde. Ob das freilich unbedingt zu seiner inneren Balance und Harmonie beiträgt?

Der andere Blick …

 

All that we see or seem
Is but an illusion within an illusion.

Frei nach Edgar Allan Poe (1809-1849):

A Dream Within a Dream (1849)

 

 

Photographie © Hetty Wortspeicher / LuxOr